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Markus Sung-Keun Park, Annette Schönmüller, Solen Mainguené. Foto: Bettina Stoess.
Markus Sung-Keun Park, Annette Schönmüller, Solen Mainguené. Foto: Bettina Stoess.
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Der heilige Emigrant der Schlachthöfe – Luigi Nonos „Intolleranza 2021“ aktualisiert in Wuppertal

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Wir erinnern uns: Am Beginn der Pandemie gab es vor dem ersten Lockdown einige so genannte „Geisterpremieren“, bei denen fertig gestellte Produktionen wenigstens vor einer kleinen Schar Kritiker*innen erstmals gegeben wurden. Das geschah zum einen, um den Produktionsprozess geregelt zu seinem Ende, nämlich bis zur Premiere zu führen. Und zum anderen hoffte man wohl auch, der Lockdown sei nur von kurzer Dauer und das Presseecho wäre bis zur Wiederaufnahme des Spielbetriebs noch nicht verhallt. Nun gab es in Wuppertal eine Art Déjà-vu mit der Premiere von Luigi Nonos „Intolleranza 2021“, die erneut nur vor Kritiker*innen gespielt und dabei für spätere Streamings aufgezeichnet wurde.

Das Wuppertaler Opernhaus hatte nämlich allzu früh bereits Ende April entschieden, den Rest der Spielzeit für Live-Aufführungen mit Publikum verloren zu geben. Während andere Häuser nun wenigstens noch für gute vier Wochen ihre Pforten wieder öffnen, verlegt Wuppertal seinen Spielbetrieb weiterhin ins Digitale. Was bei dieser Produktion besonders schmerzhaft ist, denn insbesondere der hier entwickelte mehrdimensionale Raumklang dürfte seine Magie im Stream nur sehr eingeschränkt entfalten.

Dennoch wollten die Wuppertaler diese Produktion nicht länger zurückhalten, denn das hoch ambitionierte Projekt rumort schon seit 2020 in den Eingeweiden des Hauses; es war eigentlich geplant im Kontext des Gedenkjahres anlässlich des 200. Geburtstages von Wuppertals berühmtestem Sohn Friedrich Engels. Man wollte mit dieser besonderen Produktion von Luigi Nonos einst skandalträchtigem Opernerstling von 1960 auf eine wenig beleuchtete Seite von Engels Denken hinweisen, erläutert vor der Vorstellung der Wuppertaler Oberbürgermeister Schneidewind und im Pressetext heißt es, man wolle „auf das Zusammenspiel von Arbeit, Migration und Unterdrückung im Kapitalismus blicken“ und damit wiederum auf das Werk Friedrich Engels zurückverweisen.

Dass in Vorstellungen mit nur wenigen Fachbesuchern keine Premierenstimmung aufkommen will, versteht sich von selbst. Die Atmosphäre hat eher die Aura einer geschlossenen Endprobe vor Mitarbeiter*innen. Und trotzdem weicht die Unterspannung an diesem Abend schnell dem Eindruck, einer dem Stück akustisch idealen Lösung beizuwohnen, die mit größerem Publikum so gar nicht möglich wäre. So aber können sich die Musiker*innen und Chorist*innen auf den Rängen ausbreiten und durch die lockere Aufstellung unter streng eingehaltenen Hygiene-Abstandsregeln einen imposanten, alles umfassenden, mehrdimensionalen Raumklang produzieren, in dem sich Klänge vom Band (Chorwerk Ruhr) und live produzierte Töne auf betörende Weise mischen, reiben und überlagern.

Nonos Opernerstling, der im Auftrag der Biennale von Venedig im dortigen Teatro La Fenice 1961 unter Protesten von Neo-Faschisten zu Uraufführung kam, wurde damals als provozierend politisch verstanden. Der vollständige Originaltitel des epochemachenden Werks lautet „Intolleranza 1960“ in Wuppertal heißt es nun aber „Intolleranza 2021“.

Regisseur Dietrich W. Hilsdorf hat ein bewährtes Leitungsteam mit Dieter Richter (Bühne) und Nicola Reichert (Kostüme) versammelt und verlegt Nonos eher wolkig erzählte Geschichte eines Migranten konsequent in die unmittelbare Gegenwart. Aus Nonos Bergarbeiter, den er „Ein Emigrant“ nennt, wird bei Hilsdorf ein Schlachthof-Malocher in weißer, blutbespritzter Montur, die mit Maske und Haarschutz zugleich an das systemrelevante Pflegepersonal auf den Corona-Stationen erinnert.  Zu Beginn huschen auf dunkler Bühne unablässig weiß gekleidete Statisten in eiliger Reihe von links nach rechts, dann geht zu den ätherischen Klängen des Eingangschores sehr langsam der Vorhang hoch und gibt den Blick frei auf einen riesigen Container, zu den Übertiteln werden laufend fortschreitende Daten eingeblendet, es beginnt mit dem 11. Januar 2021 und überholt schließlich die Gegenwart.

In dem Container, spärlich möbliert mit Plastikstühlen, Spind und Wäscheständer haust der unglückliche Fleisch-Zerteiler gemeinsam mit einer Gefährtin. Wenn es den Heimweh-Gebeutelten bei Nono wegtreibt, verharrt er in Wuppertal nach Streit und Trennung von der Gefährtin weiterhin in dem Container. Auch die nicht genehmigte Demonstration, in der er zufällig landet, findet im Container statt, ebenso Verhaftung, Folter und Flucht und die innere Läuterung vom dumpf leidenden Malocher zum idealistisch glühenden Freiheitskämpfer, der schließlich gemeinsam mit neuer Gefährtin in einer Sintflut umkommt.

Dietrich W. Hilsdorf erzählt die durch Gregor Eisenmanns Videos überhöhend illustrierte Handlung ernüchternd sachlich, fast beiläufig kühl mit gelegentlich aufblitzender Ironie, was aber als souverän verabreichtes Gegengift die oft pathetisch gespreizten, mal blumig aufgeschäumten Texte erleichternd neutralisiert. Ansonsten steht die Musik und ihr spektakuläres Arrangement im Raum im Mittelpunkt: Nono selbst schwebte tatsächlich schon ein multidimensionaler Raumklang vor, weshalb er das Orchester in vier Gruppen aufteilte. In Wuppertal wird das nun radikal umgesetzt: Im Graben sind nur die Streicher und die Harfen platziert, die Holzbläser spielen vom Rang hinter dem Publikum, Blech und Schlagzeug befinden sich hinter der Bühne. Die Chorist*innen des Wuppertaler Opernchores sind ebenfalls großzügig im Raum verteilt, rahmen die Bühne und müssen sich im Grunde allesamt solistisch behaupten. Allein klanglich ist der Abend ein Erlebnis, zumal das fünfköpfige Solisten-Ensemble – überstrahlt von Markus Sung-Keun Parks dramatisch expressivem Emigranten mit belastbarem Tenor – durchweg Großartiges leistet. Gleiches gilt für Chor und das Orchester unter der straff organisierten Leitung von Johannes Harneit und seinem Subdirigenten Stefan Schreiber. Bleibt als Einwand der Eindruck, dass vor allem die Texte von „Intolleranza“, damit aber die ganze Stoßrichtung des Projekts mit seinem hohen Ton heute seltsam pauschal und zugleich pathetisch und lebensfern wirkt. Dennoch, oder vielleicht gerade durch die Diskrepanz zwischen der immer noch packenden Musik und dem schlecht gealterten Text ein hoch interessanter Abend.

  • Die Premiere vor kleinem Publikum wurde aufgezeichnet, Onlinepremiere ist am Fr. 18.6. im Stream, weitere Streaming-Termine: 26.6.,2.7., 13. & 27.8.

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