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Detlev Glanerts „Solaris“ in Bregenz. Foto: Bregenzer Festspiele / Karl Forster
Detlev Glanerts „Solaris“ in Bregenz. Foto: Bregenzer Festspiele / Karl Forster
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Implodierender Traum der Wiederkehr: Uraufführung von Detlev Glanerts „Solaris“ bei den Bregenzer Festspielen

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Im Gegensatz zu den filmischen Dramatisierungen des Zukunftsromans „Solaris“, der Fokussierung auf zivilisatorisch philosophische Fragen durch Andrei Tarkowski (1972) und den Beziehungsgeschichten im Kopf bei Steven Soderbergh (2002), faszinierte Detlev Glanert an dem 1961 veröffentlichten, umfangreichen Roman von Stanisław Lem offenbar das Bekannte im Fremden. Die Uraufführung seiner klangvoll-erinnerungsreichen Oper „Solaris“ erntete als Eröffnungspremiere der Bregenzer Festspiele einen vollen Erfolg.

Mit leisen Aufwärtsfiguren aus dem Nichts beginnt Glanert musikalisch die erste Annäherung an den Planeten Solaris. Aber in Bregenz nicht aus der Ferne, wie in Partitur und Libretto vorgesehen: die Courtine hebt sich das erste Mal, um den Blick frei zu geben auf die nächtliche, blau beleuchtete Raumstation und senkt sich gleich wieder. Als dies kurz darauf, in rotem Licht erneut passiert, halten einige Besucher der Uraufführung das schnelle Öffnen und Schließen für einen Fehler, und Heiterkeit kommt auf.

Verblüffend, was der Psychologe Kris Kelvin, nach 16-monatiger Reise auf der Raumstation beim Planeten Solaris angekommen, beim Öffnen seines Raumanzug-Visiers erlebt: „Eine Negerin, nackt monströs und mit kräftig ausgebildeten Organen, wie bei einer altsteinzeitlichen Fruchtbarkeitsgöttin“ (Regieangabe im Libretto Reinhard Palms). Als ein „Gast“ des Doktors Gibarian war sie aus dessen Erinnerung auf die Raumstation gekommen; Gibarian hat sich umgebracht, aber die Negerin schleift den erstarrten Leichnam des Wissenschaftlers weiter durch die Gänge.

Ein weiterer Gast, bei Doktor Sartorius, ist ein „Zwerg“ genanntes, ständig quengelndes Kind. Ein dritter ist eine Alte Frau: die dem Wissenschaftler Snaut sexuell verbundene Mutter beschimpft ihren Sohn als „Versager“, der sie dafür mit einer Axt zu erschlagen trachtet. Auch Kris Kelvin erscheint ein solcher untoter Gast. Es ist seine Frau Harey, die mit neunzehn Jahren Selbstmord begangen hatte. Um sich ihrer zu entledigen, wird Harey von Kris ausgezogen und nackt in einer Rakete verschickt. Aber dessen ungeachtet, kommt Harey zurück, als wäre sie nie weg gewesen, und die alte, schuldbeladene Liebesbeziehung lebt wieder und wieder auf.

Eine Opernhandlung über Erinnerungen ermöglicht es dem Komponisten, reflektierende Assoziationsketten zu schaffen. Die gibt es in dieser Partitur zuhauf. So gemahnt der Traum der Wiederkehr einer Toten stark an Topoi in Korngolds „Die tote Stadt“, auch wenn dort das Liebespaar klassisch mit Sopran und Tenor, hier mit Sopran und Bariton besetzt ist. Das mit dreifachem Holz und mit vierfachem Blech besetzte Orchester integriert Harfe und Celesta und steht so Korngold an Süffigkeit nicht nach, wenn auch bei größerer Durchsichtigkeit, was wiederum an die Transparenz der Klänge im Spätwerk von Franz Schreker erinnert. Im Jazz-Tonfall, einem Element in der Zeitoper der Zwanzigerjahre (etwa in Schrekers „Christophorus“) singt Snaut im zweiten Teil der Oper. Ein Philosophie vermittelnder, unsichtbarer Chor hingegen ist ein Topos aus Schrekers „Der singende Teufel“.

Wenn Doktor Sartorius diktatorische Züge entwickelt, fällt er in den Tonfall des Doktors in Bergs „Wozzeck“. Und wenn ein Bariton über den Begriff „Wahn“ reflektiert, wie hier Kelvin, gemahnt das den Hörer unfreiwillig an Hans Sachs’ Monolog in Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“. Glanerts freie Tonalität ermöglicht den Solisten sehr sangliche Kantilenen. Eine klangliche Zuspitzung erfolgt in einem großen vokalen Ensemble, als der Kulmination vergeblicher Totschläge, welcher dann reduziert die „Annihilation“ der ungebeten Gäste folgt, eine Implosion der Wiederkehr. Zugespielte Fernchöre, zunächst in Vokalisen, später in verbal deutlicheren Aussagen, sind die Stimme des Planeten Solaris, die auf die Raumstation dringt. Ihr Text wird vom Video-Künstler Tommi Brem beim vierten Interludium als wortspielendes Interface auf der geschlossenen Courtine umgesetzt.

Der Einsatz von Videokunst hat in der Bühnenadaption des Romanstoffes einen besonderen Stellenwert. So lösen sich von der schlafenden Harey wiederholt Astralleibe aus dem Bett und versuchen, ihrem Mann durch die verschlossene Tür zu folgen. Während Reinhard Palm, von Lem „inspiriert“, das farbige Naturschauspiel des Ozeans auf dem Planeten, breit und differenziert schildert, ist davon in Christian Fenouillats Bühnenraum nur ein Widerschein farbiger PC-Diagramme zu erleben, daneben die Videoprojektion atmosphärischer Wellen und farbiger Gehirnströme von Kelvin. Die an Visionen reiche Handlung hat das Regieteam Moshe Leiser und Patrice Caurier eng an der Spielvorlage in die Bühnenwirklichkeit des Bregenzer Festspielhauses umgesetzt.

Am Ende der Inszenierung aber besteigt Kelvin nicht eine Fähre zum Planeten Solaris, sondern eine Küchenlampe senkt sich über ihn, während das Bühnenbild auseinander fährt: in dem nun schwarzen Raum flammen Glühbirnen, als Assoziation eines Sternenhimmels; Kelvin versucht, sich am Kabel der Lampe zu strangulieren, schwebt dann aber wie an einem Trapez virtuos über der Szene. In Stimme, Diktion und Gestaltung ist Dietrich Hentschel in der Partie des Psychologen Kris Kelvin besonders ausdrucksstark. Lyrisch intoniert Marie Arnet seine Frau Harey. Als liebenswert verwahrlosten Sonderling in Mime-Diktion, gestaltet Martin Koch den Snaut, Christiane Oertel die Obsession der ihm libidinös verbundenen Alten Frau. Bassfundamental Martin Winkler als paranoider Analytiker Sartorius, kreischend die Sopranistin Mirka Wagner auf dem Dreirad als sein Zwerg. Die schwarze Altistin Bonita Hyman verkörpert die vom toten Gibarian geschundene Negerin gleichermaßen archaisch wie exzentrisch. Großer, uneingeschränkter Applaus für die Wiener Symphoniker, den Prager Philharmonischen Chor, einstudiert von Lukas Vaslek, die Gesangssolisten, das Produktionsteam und die Autoren.

Das nachhaltige Opernerlebnis wurde von einem Besucher im Hinausgehen als „moderne Musik von vorgestern“ umrissen – und die tut bekanntlich niemandem mehr weh. Der mit Glanerts Opern erfahrene Markus Stenz vermochte die Wiener Symphoniker mit seiner Begeisterung für diesen Komponisten zu infizieren: Glanerts Klanglandschaften leuchten in höchster Qualität auf. Stenz wird diese Oper auch an der Komischen Oper dirigieren, wo „Solaris“ im März nächsten Jahres ihre Berliner Erstaufführung erleben soll.

Weitere Aufführungen: 22. und 25. Juli 2012.

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