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Enno Poppe. Foto: Stefan Pieper
Enno Poppe. Foto: Stefan Pieper
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Die Kunst des Hörens: Das NOW-Festival in Essen 2019

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Menschliche Arbeit durch Maschinen zu ersetzen ist ein ungebrochen beliebter Fortschrittsfetisch. Zugleich haben Aspekte von Automatisierung gerne auch künstlerische und kompositorische Prozesse inspiriert. Warum sich noch um spielerische Möglichkeiten eines „echten“ Ausführenden einen Kopf machen, wenn doch die Technik hier alle Grenzen sprengt! Wie dies in der Praxis geht, demonstrierte die aktuelle Ausgabe des Essener NOW-Festivals, das in diesem Jahr unter dem Motto „Transit“ stand. Stefan Pieper berichtet.

Transit kommt von Transire, also dem Übergang in andere Zeitalter, Bewusstseins-Sphären oder eben auch künstlerische Produktionsbedingungen. Und noch viele weitere musikalische Möglichkeiten eines unablässigen Werdens inszenierten thematisierten Wochen lang insgesamt 18 Konzerte.

Fünf Konzertflügel ohne Spieler musizieren im Alfried-Krupp-Saal. Eine perfekte technische Vernetzung sorgt für ein Timing wie von Geisterhand, ebenso erzeugt eine rechenintensive Computertechnik eine frappierende Anschlagssensibilität, die jedes Player-Piano aus den Pioniertagen alt aussehen bzw. klingen lassen dürfte. Aber: Damit all dies so wirkt, steht wieder ein hohes Maß an musikalischer Empathie und wohl kaum künstlicher Intelligenz eines ganzen Teams hinter diesem Spektakel.

Der Faktor Mensch kommt auf der Bühne höchstens punktuell ins Spiel: Susanne Achilles dialogisiert mit ihrem eigenen Instrument in Jean-Claude Rissets „Duet for one Pianist“. Das Publikum wird auf der Großleinwand Zeuge dieser Mensch-Maschinen-Interaktion. Fehlen darf hier natürlich nicht das amtliche Referenzstück für solche Abenteuer: Zwei von Conlon Nancarrows „Studies for Player-Piano“ haben vermutlich noch nie einen derartigen Klangrausch hineingezogen. Die Tonkaskaden der Klaviere verdichten sich im Alfried-Krupp-Saal zu einem Geschwindigkeitsrausch, in dem sich Einzeltöne bis zur völligen Auflösung hin atomisieren und schwindelerregende Texturen produzieren.

Wenn schon solch spektakuläre Gesamtinszenierungen den Saal erbeben lassen, darf auch die große Orgel der Philharmonie nicht dazu schweigen. Man stöpsele den Spieltisch ab, steuere alles per Midi unmittelbar an, gebe jenseits irgendeiner menschlichen Spielbarkeit dem entfesselten Klangrausch freien Lauf. Neue Kompositionen von Jagyeong Ryu, Florian Zwissler und Ludger Brümmer gaben solchen Abenteuern aufregend frisches Futter an diesem Abend.

Dass der Auftritt einer ambitionierten Nachwuchstruppe namens Ensemble Hand Werk im Folkwang Museum stattfinden würde, nährte leise Hoffnungen auf kreatives Bespielen von Tempeln der bildenden Kunst mit musikalischen Statements aus der Gegenwart. Letztlich war es dann doch nicht mehr aber auch nicht weniger als ein konzentriertes Konzert in einem akustisch optimalen Vortragssalon. Da eroberten unter anderem die harschen Geräuschtexturen von Georgia Koumarás neuem Stück „Die wunderlich Gasterei“ den Raum, stellte Matthias Spahlingers sich gnadenlos an die Stille annäherndes Streicherduett „Adieu m'amour – Hommage an Guillaume Dufay“ die Geduld auf die Probe, entfaltete schließlich nach weiteren eher stationären Klangszenarien die collagenhafte „Nachtmusik“ von Christian Winther Christensen so etwas wie unterhaltende, auftrumpfende Rhetorik.

Die großen, abends mystisch illuminierten Industriedenkmäler des Ruhrgebiets verleihen so manchem Kulturereignis eine bedeutend, nocturnale Aura. Grandios wuchs in diesem Umfeld das Folkwang-Kammerorchester über sich hinaus. Transit, also Übergang bedeutet hier die dramaturgisch stimmige Entwicklung vom Aufbruch der Moderne bis in die musikalische Gegenwart hinein. In Witold Lutoslaswkis „Musique Funebre“ brauen sich bedrohliche Klangmassen zusammen. Rätselhaft funkelnd führte Luciano Berios „Notturno“ den Gestus ins Transzendentale weiter, bevor György Ligetis „Ramifications“ unter den Händen dieses hochmotivierten Orchesters in ewige Galaxien hinein strahlen. Das alles lief dramaturgisch stimmig auf das neue Werk von Karin Haußmann zu. „Geleit“ heißt ihr aktuelles Konzert für Violine und Streichorchester plus Akkordeon, in dem sie den Tod der eigenen Mutter aufarbeitet. Also setzte das Gesamtensemble unter Johannes Klumpps Leitung mit einer hellsichtig in dieser Rolle aufgehenden Violin-Solistin Liza Ferschtman hier nicht weniger als den Übergang des Irdischen in eine höhere, jenseitige Sphäre mit expressiven Ausbrüchen und drängender Emotionalität in Szene.

Eine ähnliche dramaturgische Logik war dem Finale dieses Festivals mit dem Ensemble Modern beschieden: Da proklamiert Anton Weberns streng komprimierte „Variationen für Orchester“ noch jenen Paradigmenwechsel im 20. Jahrhundert, der die Ausdruckskraft des singulären Klangereignisses über alles andere erhebt. Aus einer anderen Ästhetik kommend, aber nicht weniger fundamental breitet Morton Feldmans „Coptic Light“ die Magie des einzelnen Gesamtklanges aus, der keine Bewegungen oder Fortschreitungen mehr braucht, stattdessen einen in sich geschlossenen, atmenden Kosmos immer weiter verdichtet. So viel charismatische Wirkung konnte dann auch Matthias Spahlingers vielgestaltig-eruptives Monumentalwerk „passage/paysage“ nicht mehr toppen. Die zahllos wuchernden rhythmischen Gesten, grell aufgetürmten Klangbilder und schließlich das radikale Gegenteil davon, wenn eine Viertelstundelang nur ein einziger Pizzicatoton zu wiederholen ist, machten das Werk auch für den Dirigenten zur sportlichen Herausforderung. Dem Publikum hatte Enno Poppe in seiner Einführungsrede gute Stichworte für eine produktive „Kunst des Hörens“ gegeben: Man lehne sich zurück fühle sich wie auf einer Hochgeschwindigkeits-Zugfahrt durch rasch wechselnde Landschaften.

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