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Foto: © Clara Fandel.
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Doch kein Wunder – Aus einer ausweglosen Situation das Beste machen – Moon Music in Berlin

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Ein Regenbogen steht am Tag der Premiere über Berlin. Auf „Abschied“ und „Transformation“ folgte nun Mitte März mit „Neubeginn“ der dritte Teil der Musiktheater-Trilogie „MOON MUSIC“. Eigentlich war geplant, dass bei diesem letzten Stück des Kooperationsprojekts von Neuköllner Oper, STEGREIF.orchester und Prinzessinnengarten Kollektiv das Publikum in der realen Welt beiwohnen darf – im Freien auf dem St. Jacobi Friedhof. Betrachtet man die Zahlen, wäre es auch der denkbar bestmögliche Zeitpunkt gewesen: Inzidenz, R-Wert, Intensivbettenbelegung und Fallzahlen lagen in Berlin alle so tief wie seit Oktober nicht mehr. Trotzdem gab es keine Genehmigung dafür, draußen vor Publikum zu spielen.

Rational sind die Entscheidungen des Berliner Senats dieser Tage nicht immer zu fassen. Eine Theaterveranstaltung der freien Szene mit einer zweistelligen Zahl Menschen im Publikum darf nicht unter freiem Himmel stattfinden. Stattdessen werden bei steigenden Infektionen im Rahmen des Berliner Pilotprojekts Testing Vorstellungen mit Tausend Leuten in geschlossenen Sälen geplant. Nachdem die Philharmoniker und das Konzerthaus zum Zuge kamen, mussten die für die Osterfeiertage geplanten Vorstellungen an Staatsoper und Deutscher Oper vorerst zurückgestellt werden. Das Pilotprojekt wurde nämlich – oh Wunder – erstmal auf Eis gelegt. Es hätte ja niemand damit rechnen können, dass eine dritte Welle kommt ... nur weil schon seit Wochen davon gesprochen wird. So oder so scheint die ganze Idee des Pilotprojekts reinen Marketingzwecken zu dienen, für welche die freie Szene scheinbar keine relevante Rolle spielt. Freie Szene – freier Fall trifft es da schon ganz gut. Das zwischen den Kulturbereichen vorherrschende „Klassenproblem“ wurde bereits an anderer Stelle bemängelt. Nun gut: Mit Sicherheit hätte das kleine Zusammenkommen in den Prinzessinnengärten die Zahlen explodieren lassen und wäre somit viel unverantwortlicher als die etlichen Demonstrationen und Gottesdienste, die dieser Tage stattfinden. Aber genug der Vorrede: Also fand auch dieser dritte Teil von „Moon Music“ unter der Regie von Selina Thüring und der Dramaturgie von Änne-Marthe Kühn per Videoübertragung statt.

Virtuelle Ankunft

Gerne könne die Kamera angestellt werden. Dann untermalen Elektronische Klänge den schlichten Schriftzug „Ouvertüre“ im Black. Vornehm gesellen sich Alistair Duncans Posaunentöne dazu, dann Nikola Djuricas feine Figuren der Klarinette. Darüber entfalten sich die Vokalisen von Derya Atakan, mal in klassischer Fasson, mal in poppigem Brustregister, stets virtuos. Voluminös zart zupft Paul Lapp den Kontrabass, der sich darunter legt und der Rhythmus beginnt in sich zu kreisen. „Da gab es diesen König in der Stadt“ – die nonverbale Musik hüllt in ein angenehmes Wiegen. Der Blick in die Kiezkapelle am St. Jacobi Friedhof eröffnet sich.

Verlorene Gedanken sammeln

Auf das Loslassen der Lasten folgte die Aufnahme und Transformation der Wünsche. Der König wurde abgewählt – oder hingerichtet; jedenfalls entschied sich die Mehrheit gegen ihn. „They changed the story and history“ – es ist bezeichnend, wie die deutsche Sprache im Wort Geschichte keinen Unterschied macht. „Irgendwie dreht sich immer alles im Kreis“ – Geschichte wiederholt sich, lautet ein Sprichwort, und wer weiß, vielleicht blicken die Menschen einst in ähnlicher Weise auf das Jahr 2021, wie wir auf das Jahr 1789 blicken. In variierter Weise freilich, so wie jede Wiederholung in der Realität auch Variation bedeutet, ganz so wie in der Musik. Nur das mechanistische Schaffen normiert – die Zyklizität der Natur aber ist frei und niemals ganz und gar gleich. Aber immer ähnlich.

Wie verändern?

„Wenn dein Land aufhört zu existieren, obwohl die Straßen noch alle gleich aussehen. Wenn dein Leben weitergeht und doch anders“, spricht das Voiceover. Das Vierergespann auf der Bühne trägt nun sowjetische Uschanka-Mützen. Zwischen zwei Protagonisten entbrennt ein Widerstreit: Wir sollten nach vorne blicken, denn wem bringt es etwas, in der Vergangenheit zu stecken – versus: Wir müssen innehalten und reflektieren, es gab schließlich einen Systemwechsel; niemand weiß, was das eigentlich bedeutet. „Ich weiß gar nicht ob die Frage der Verantwortung im Fokus steht. Geht es nicht um den Status quo?“ Manchmal aber ist der gewaltvollste Akt, nichts zu tun. Doch wer hat eigentlich für diesen Wechsel gesorgt? – lautet plötzlich die Frage ans Publikum gerichtet. „Kameras an!“ Einige Wiedergekehrten im Publikum trauen sich, kenntlich hinter ihrer Entscheidung aus Teil II zu stehen. „Ach, es ist doch eigentlich egal. Für die Erde ist der König Kompost. Sie nimmt sich, was sie will“, löst sich die Intervention gegen das Publikum.

Das Freie im Unfreien

Beim Blick nach draußen liegen die Mondkugeln, die bereits die vorangegangenen Teile begleiteten, im Gestrüpp. Das Eröffnungsmotiv aus „Le sacre du printemps“ erklingt wie ein anmutiges Flehen und gleitet in freie Figurationen. „Die Ahnen haben so viele Opfer gebracht“ – eine Sphäre musikalischer Skurrilität eröffnet sich und die Stimme aus dem Off fährt fort: „Vielleicht könnt ihr ja für einen Moment Verantwortung übernehmen, für einen Augenblick. Aber dem Augenblick seid ihr egal. Dem Feuervogel seid ihr egal. Der kommt und geht, wie der Frühling.“ Die Vier – nun als Minister eines überkommenen Alten – begeben sich mit ihrer jahreszeitlich unpassenden Kleidung aus der Kapelle in die Sonne. „Dieser Frühling kam zu früh.“ Sie schreiten über den Friedhofsweg, als hätten sie lange nicht das Tageslicht erblickt. Arabesque Schnörkel ertönen über einer beschwörenden Grundierung. An den Mondkugeln angelangt, heben sie diese vom Boden und zertrümmern sie, sodass die Zettel mit den Transformationswünschen des letzten Mals zum Vorschein kommen. Es ist ein Schritt des endgültigen Sich-Losmachens.

Das Neue im Alten

Düster tiefe Klänge lamentieren, schlagen in ein Stürmen um. Die Kamera fährt durch die verlassenen Gräber und zertrümmerten Grabsteine. Fantastische Figuren durchstreifen das Dickicht: Eine Narrengestalt im überdimensionierten Tütü, ein grüngepelzter Herr, eine elfenartige rot schimmernde Gestalt: Ist es der Feuervogel, dieses Wesen der slawischen Mythologie, das Heil und Übel bringt? Die Musik indes wird bedrohlich, ja kämpferisch – ein militärischer Duktus pirscht sich heran. In postapokalyptischem Setting verbrennen die Minister die Wunschzettel an einer Feuertonne, um sich anschließend in Erdaushebungen zu begraben – nein, einzupflanzen! Sie räkeln ihre Glieder gleich Ästen im Licht. „Mir ist es egal, aber wenn du etwas willst, solltest du nicht nur wünschen können. Geh einen packt ein! Nicht mit dem Teufel, dem König oder der Mondin. Sondern mit dir – Jetzt!“ 

Das Ungewisse im Anfang

„Was ist Neubeginn für Sie?“, steht die Frage auf dem Bildschirm: „Was sind Sie bereit zu opfern? ...oder zu geben?“ Als Inspiration changiert die Musik zwischen wildem Schrammen, ja Hicksen und verspielter Chromatik mit Groove; auch Klezmerelemente und orientalisierende Klänge sind darunter. Alles gipfelt in einer Vorfreude kämpferischer Gewissheit. Aber es ist kein Kampf gleich einer Schlacht, scheint eher wie ein Spiel, wie ein Tanz. Voller Temperament reizen sich Gesang und Klarinette, stacheln sich gegenseitig an. Danach bereitet sich ein Moment der Andacht, wenn die Vier ihre Neuanfänge in Briefe packen und diese gen Kamera hinter massiven Kerzen einwerfen. Das Publikum soll es ihnen gleichtun, die Zettel an die Kamera halten oder am besten per Brief einsetzen. Aus den Einsendungen soll im April ein eigenes Kunstwerk entstehen. Die Musik eröffnet nun Bögen und Girlanden, Vokalisen steigen inbrünstig auf in unermessliche Höhen. „Die Mondin hat uns alle beobachtet: beim Untergehen und beim Aufgehen.“

Die Totgeglaubten schweigen nicht

„Die Schönheit liegt im kurzen wundersamen Auge der Betrachtenden und in der Entscheidung … Der Feuervogel hat getötet … Und wer noch immer nicht zu den Narren und Närrinnen zählt, kann jetzt damit beginnen. Und nicht mehr aufhören.“ 2020 war ein Jahr voller Ungewissheit, Verwirrung und Stagnation. 2021 aber ist ein Jahr der Entscheidungen. Diese Theatertrilogie schuf, obwohl sie nur virtuell stattfinden konnte, tiefe Verbundenheit. Sie zeigte, mehr als reale Vorstellungsabende es vermögen, wie sehr Musik und Theater wahrhaftig Seelsorge leisten können, zeigte wie mitteilungsbedürftig die Menschen aktuell sind, zeigte aber auch, dass viele für die Entscheidungen dieser Zeit nicht bereit sind. Ganz so, wie wir es dieser Tage von den Politikerinnen und Politikern dieses Landes erleben. „Der Frühling 2021 wird anders sein, als der Frühling vor einem Jahr“, sagte Bundeskanzlerin Merkel. Aber die Phase seit Mitte März, seit dem Neumond, der sich während „Neubeginn“ ereignete, entpuppte sich als Trug, als Fehlstart. Werden sich die Künste je wie Phönix aus der Asche erheben? Denn die allergrößten Schäden sind nicht die finanziellen. Es sagt viel über die Gesellschaft, wenn sie vor allem anderen ihre Kunst bereit ist zu opfern. Und für manch einen ist es bereits zu spät.

Noch ist die Zukunft unklar. Das spektakulärste Wetterphänomen über Berlin war dieser Tage, genau ein Jahr nach Ausrufung der Pandemie, nicht der Regenbogen, es waren die Mammatus Wolken, so benannt wegen ihrer Form, die der einer nährenden Brust gleicht. Was dieser Frühling noch bringen wird, weiß nur der Himmel.

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