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Surreale Hochzeitsfeierlichkeiten: Edison Denisovs „Der Schaum der Tage“ in Stuttgart. Foto: A.T. Schaefer
Surreale Hochzeitsfeierlichkeiten: Edison Denisovs „Der Schaum der Tage“ in Stuttgart. Foto: A.T. Schaefer
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Rehabilitation eines Opernkomponisten: Edison Denisovs „Der Schaum der Tage“ nach Boris Vian an der Stuttgarter Staatsoper

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Edison Denisovs Musik in seiner Oper „L’Écume des jours“ („Der Schaum der Tage“, nach Boris Vians gleichnamigem Roman), funktioniert ein wenig so wie das „Pianocktail“ seines Protagonisten Colin: Das Spielen auf der Klaviatur mixt die musikalisch angesteuerten Zutaten zu köstlichen Drinks, je feiner die harmonischen und anschlagsdynamischen Möglichkeiten ausgereizt werden, desto subtiler fällt das Geschmackserlebnis aus.

Die musikalischen Zutaten, aus denen Denisov seine 1981 beendete, 1986 mit wenig Erfolg in Paris uraufgeführte Oper schuf, sind, grob gesprochen, die folgenden: an Webern und Berg geschulte Dodekaphonie, die französische Klangfarbentradition von Debussy bis Boulez, Chanson, Musical und – der Vorlage des Swing- und Bebop-Enthusiasten Vian entsprechend – Jazz. Bei der Verknüpfung dieses heterogenen Ausgangsmaterials, das mal wie selbstverständlich ineinander verflochten, mal in harten Kontrasten oder mit wimpernschlagartigen Übergängen gegeneinandergestellt wird, kam dem 1996 verstorbenen Komponisten seine Erfahrung als Filmkomponist zugute.

Beachtliches dramaturgisches Geschick bewies Denisov außerdem bei der Einrichtung des französischen Librettos, das aus Vians Roman von 1946 eine prägnante, von introspektiven Zwischenspielen durchzogene Szenenfolge kondensiert. Die immer wieder unvermittelt ins Surreale abdriftende, melancholisch-tragische Liebesgeschichte zwischen Colin und der an einer in ihren Lungenflügeln wachsenden Seerose dahinscheidenden Chloé entwickelt eine musikalisch-poetische Ausstrahlung, die scheinbar mühelos über die Aufführungsdauer von etwa 140 Minuten trägt.

Mit leichter Hand, aber mit untrüglichem Gespür für die kleinen Abgründe, die sich unter den absurden Episoden rund um Colin und seinen, dem Schriftsteller Jean-Sol Partre verfallenen Freund Chick auftun, hat Jossi Wieler das Stück in bewährter Partnerschaft mit seinem Dramaturgen Sergio Morabito auf die Stuttgarter Bühne gebracht. Der Hintergrund von Jens Kilians sparsamem Bühnenraum (rechts das auch im Sinne einer Licht-„Orgel“ synästhetische Genüsse hervorbringende Pianocktail), öffnet sich nur selten für eine zusätzliche Spielebene, überwiegend wird er als Projektionsfläche genutzt. Hier kann der blutige Unfall auf der Eisbahn, der schaurige Schaufensterbummel oder die Hochzeitsreise in Form einer leicht gespenstischen Überlandfahrt visualisiert werden.

Den kurzen, von Denisov meisterlich zugespitzten und dann pulverisierten Höhepunkt des ersten Teils bilden die Hochzeitsfeierlichkeiten, zu denen Jesus persönlich geladen ist und den der Chor mit einem Musical-Couplet umrahmt, bis die Szenerie in kürzester Zeit in die nachfolgende Katerstimmung umschlägt. In der Folge der bald diagnostizierten Erkrankung Chloés verdüstert sich die Atmosphäre nach der Pause weiter: Colin muss, um die kostspielige Frischblumentherapie bezahlen zu können, in der Waffenfabrik das Wachstum von Gewehrläufen mit seiner Körperwärme befördern, sein Freund Chick wird von der Steuerfahndung (Wieler assoziiert hier die „Feuerwehr“ aus Ray Bradburys „Fahrenheit 451“) brutal gemeuchelt, seine Freundin Alise kommt in selbst gelegten Flammen um, Chloé erliegt ihrem Leiden.

Denisov verstärkt hier die religiösen Konnotationen des Romans, die sich schon zuvor mit Glockengetön in die sich anbahnende Liebesgeschichte eingemischt hatten, noch einmal erheblich: Chloés Tod und Colins Gespräch mit Jesus (bei Vian ist es noch der Pfarrer) werden vom Chor und einem Solotenor mit Gebeten kommentiert; den bei Vian lapidar notierten Schluss, bei dem zwölf blinde Mädchen unfreiwillig für das Ende der todessehnsüchtigen Maus aus Colins Haushalt sorgen, lädt der Komponist mit deren frommen Gesängen auf.

Auch hier, wo Denisov mitunter auch musikalisch etwas dick aufträgt und das Timing der Szenenfolge nicht ganz so selbstverständlich wirkt wie in den ersten beiden Akten, hält Jossi Wieler die Spannung aufrecht, behält seine leise, unaufdringliche Handschrift bei, ohne Denisovs Empathie seinen Figuren gegenüber zu verraten.

Neben diesem szenischen Einfühlungsvermögen und der bravourösen Chor- und Ensembleleistung (darunter Ed Lyon und Rebecca von Lipinski in den anspruchsvollen Hauptrollen) ist es vor allem dem glänzend disponierten Staatsorchester und Sylvain Cambrelings souveräner Hand zu verdanken, dass sich der Premierenabend zu einem Triumph für das Stuttgarter Haus, vor allem aber für den mit einiger Verspätung rehabilitierten Opernkomponisten Denisov entwickelt.

Unter Cambrelings Dirigat blüht der mehrfach geteilte Streichersatz, über den sich neben Oboe und Klarinette vor allem die sogar mit einem Tristan-Zitat bedachten Saxophone erheben und in dessen transparentes Geflecht unter anderem Vibraphon, Cembalo und E-Gitarre eingewoben sind, zu zerbrechlicher Klarheit. Und die veritable Jazz-Besetzung entfaltet nicht nur in den wörtlichen Ellington-Passagen (darunter natürlich der Song „Chloé“), sondern auch aus dem Untergrund heraus echten Swing. Großer, berechtigter Jubel.

Weitere Aufführungen: 4., 7., 11.12.2012

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