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Boris Godunow am Staatstheater Nürnberg. Foto: Ludwig Olah
Boris Godunow am Staatstheater Nürnberg. Foto: Ludwig Olah
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Ein Zar steigt aus: Modest Mussorgskys „Boris Godunow“ in der Urfassung am Staatstheater Nürnberg

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Vorhang auf zum politischen Kasperltheater! Irgendwie muss das alkoholisierte Lumpenprekariat ja bei Laune gehalten werden. Ein neuer Zar kommt da gerade recht und wenn die frohe Botschaft von lustigen Handpuppen verkündet wird, umso besser.

Peter Konwitschny bringt in seiner Nürnberger Inszenierung die düstere Gesellschaftsanalyse von Modest Mussorgskys „Boris Godunow“ mit treffenden Bildern auf den Punkt. Das überdimensionale Puppentheater, von dem aus das Volk mit Goldmünzen aus der Schubkarre versorgt wird, zerbirst am Ende der zweiten Szene unter pompösem Glockengeläut. Was davon übrig ist, bildet die schäbige Kulisse für die Bruderschaft des Mönchs Pimen, bei Konwitschny ein Haufen orthodoxer Partisanen, mit dem künftigen Usurpator Grigori als Hoffnungsträger.

Brillant auch die folgenden Bühnenbilder von Timo Dentler und Okarina Peter: Das Kinderzimmer am Zarenhof ist ein klaustrophobischer Kasten, dessen goldener Wandbehang bei jeder Erschütterung grelle Lichtreflexe ins Publikum wirft. Und später ergötzen sich die mit Konsum ruhig gestellten Shopping-Queens und -Kings vor einer Einkaufswagen-Hüpfburg, auf der die Politik ihre entsprechend würdevollen Auftritte hat. Als der glücklose, von Meuchelmord-Vorwürfen psychisch zerrüttete Boris Godunow seinen Abgang macht, geht dem Bespaßungsgerät buchstäblich die Luft aus.

Neben deftiger, den historischen Stoff umdeutender Gegenwartskritik interessiert sich Konwitschny also auch dafür, was die kapitalistischen, postdemokratischen Zustände mit den Herrschenden machen. In der zweiten Szene sucht Boris vergeblich die Nähe zum Volk, in der sechsten umarmt er den konsumverweigernden Gottesnarren – er hält der gleichgeschalteten Gesellschaft als Kasperl den Spiegel vor – bevor dieser zum Abschuss freigegeben wird. Am Ende steigt der Zar einfach aus dem Politzirkus aus: Statt ins Grab steigt er in den Orchestergraben hinab, mit Sonnenbrille, Hawaihemd und Luftballon.

Nikolai Karnolsky brachte dieses fein changierende Psychogramm mit mächtigem, aber präzise fokussiertem Bass auf den Punkt. Er führte damit das durchweg prächtige Nürnberger Ensemble an, das mit David Yims brillantem Schuiski, Tilmann Ungers kraftvollem Dimitri und Ida Aldrians kindlich klarem Fjodor weitere Glanzpunkte setzte. Ausgezeichnet auch die Chöre und die von Marcus Bosch präzise geführte Staatsphilharmonie. Das herbe, zukunftsgewandte Timbre der Urfassung von 1869 entwickelte ihren unverwechselbaren Sog.

Auch die Bayerische Staatsoper hat den gut zweistündigen, pausenlos gespielten „Ur-Boris“ seit 2013 in ihrem Repertoire. Gegenüber der kraftlosen Eurokrisen-Inszenierung Calixto Bieitos ist diese bitter-ironische Nürnberger Produktion aber die deutlich kurzweiligere.

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