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John Everett Millais‘ Gemälde „Christus im Haus seiner Eltern“
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Eine andere Schneise durch die Moderne – „Tage der britischen Musik“ in Mainz

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Klischees halten sich lange am Leben. Das England des 19. Jahrhunderts galt und gilt vielfach als „Land ohne Musik“. Dass man die Entwicklung differenzierter sehen muss und auf der Insel „eine andere Schneise durch die Moderne“ geschlagen wurde als in Mitteleuropa, machten die „Tage der britischen Musik“ in Mainz deutlich. In vier kompakten Veranstaltungen, um ein Wo­chenende gruppiert, präsentierten das Phil­harmonische Staatsorchester Mainz und die Deutsche Sullivan-Gesellschaft im Staatstheater ein nachhaltig nachklingendes Panorama hierzulande wenig bekannter Klänge und Erkenntnisse.

Schwätzende junge Leute

Schon das „Konzert für junge Leute“ wagte sich unter dem Motto „English Strings“ an den Rand des Repertoires. Auf die Suite aus Henry Purcells Schauspielmusik zu „Abdelazar“, der Benjamin Britten seinerzeit das Thema für „The Young Person‘s Guide to the Orchestra“ entnommen hat, folgte Brittens „Simple Symphony“. Im zweiten Teil gab es Ralph Vaughan Wil­liams‘ „Fantasia of a Theme by Thomas Tallis“ und die „St. Paul's Suite“ von Gustav Holst. Alle diese Werke kommen traditionellen Hörgewohnheiten eher entgegen als so manches Werk der kontinentalen Zeitgenossen. Doch dass selbst diese Musik junge Leute vor erhebliche Zugangsschwierigkeiten stellen kann, bewies die während der Aufführung beharrlich schwätzende, feixende und lachende sechste Klasse eines Mainzer Gymnasiums. Das Philharmonische Staatsorchester unter dem jungen Kapellmeister Stephan Zilias spielte den Umständen entsprechend mit einem Höchstmaß an Ausdruck und Konzentration, interessierten Hörer hatten es schwer, ihm dabei zu folgen. Zilias' Moderation war enga­giert, aber nicht immer angemessen, und so geriet der Abend leider zum Beweis für den prekären Zustand von Musikleben und Musikpädagogik.

Arthur Sullivan

Vergleiche zum britischen Musikleben im 19. Jahrhundert bieten sich an. Meinhard Saremba, geschäftsführender Vorsitzender der Deutschen Sullivan-Gesellschaft, wies in seinem instruktiven Vortrag „Tonmaler und Klangdichter“ auf die große Rede hin, die der britische Komponist Arthur Sullivan (1842-1900) im Jahr 1888 in Birmingham hielt. (Eine deutsche Übersetzung erschien 2009 im Sullivan- Journal Nr. 1.) Auf dem Hintergrund einer großen englischen Musiktradition über Jahrhunderte hinweg beklagte Sullivan den Zu­stand des Musiklebens, insbesondere den Kontrast zwischen der Allgegenwart von Musik und ihrer öffentlichen Geringschätzung: „Wir gaben uns damit zufrieden, Musik zu kaufen, während wir Kirchen, Dampfmaschinen, Eisenbahnen, Baumwollspinnereien, Verfassun­gen und Parteiausschüsse machten.“ Die Politiker „mit ihrem ungesalzenen Geist“ sähen in der Musik nicht mehr als die angemessene Beschäftigung der unteren Klas­sen, „genau das richtige zum Tanzen und Seiltanzen“.

Sullivan, der als Stipendiat des Mendelssohn-Wettbewerbs drei Jahre in Leipzig studiert hatte, kam am Ende seiner Rede zu dem Schluss: „Ich habe versucht, Ihnen zu zeigen, dass England unter den Musiknationen einstmals im vordersten Glied stand, und ich möchte Sie nun nur dringend darum bitten, alle erdenklichen Anstrengungen zu unter­nehmen, um England diese Vorrangstellung wiederzugeben. Der Weg dazu besteht in der Ausbildung. Wir müssen gelernt haben, Musik zu schätzen, und ein Verständnis für Musik muss der Aufführung vorausgehen. Geben Sie uns intelligente und gebildete Hörer, und wir werden Komponisten und Interpreten hervor­bringen, die ihrer würdig sind.“

Sullivan gilt dem deutschen Musikliebhaber in der Regel als zweiter Bestandteil des vom Hö­rensagen bekannten, aber so gut wie nicht gespielten Operettenteams „Gilbert & Sullivan“. In Mainz war er zentrale Figur nicht nur in Sarembas Vortrag, sondern auch in einer ausgedehnten, aber spannenden Lieder- und Opernmatinee „Ritter, Tod und Teufel“. Hier bekam man nicht nur packende Ausschnitte aus seinen Opernwerken zu hören, sondern auch Musik aus seinem Ora­torium „ The Prodigal Son“ („Der verlorene Sohn“) oder das in der englischsprachigen Welt sehr verbreitete Lied „The Lost Chord“ auf einen Text der englischen Schrifstellerin und Philanthropin Adelaide Anne Procter. Sullivans Kunst, emotionale und dramatische Situationen zu charakterisieren und zu verdichten, seine Fähigkeit, einen Text auf prägnante melodische Linien zu bringen, sein Gespür, Witz und Ernst nahe beieinander zu sehen, und sein Instinkt, die Beherrschung des kompositorischen Handwerks mit Fasslichkeit und Popularität zu verbinden, machen ihn eigentlich zu einem Theaterkomponisten ersten Ranges.

Image-Problem

Dass Dirigenten, Regisseure und Dramaturgen in Deutschland davon kaum Notiz nehmen, hängt einerseits mit der verbreiteten Neigung zum Wiederkäuen des Bekannten zusammen. Dazu kommt aber auch ein Image-Problem, das seinen Ursprung in England selbst hatte. Die lange dominierende Kensington-Fraktion der akademischen Musikwissenschaft war fixiert auf italienische Oper einerseits und deutsche Sinfonik andererseits und konnte mit Sullivans Verschmelzung deutscher, italieni­scher, französischer und britischer Einflüsse nichts anfangen. Die Hinwendung zum populären Musiktheater mit dem bekannten Librettisten William Schwenck Gilbert galt als unseriös, und Sullivan erlitt ein ähnliches Schicksal wie später Kurt Weill, der lange Zeit im allgemeinen Bewusst­sein als bloßer Melodienzulieferer der Firma Brecht-Weill galt. Umso interessanter, dass Weill 1941 in seinem Musical „Lady in the Dark“, das gerade in Mainz auf dem Spielplan steht, die Sullivan-Tradition der Savoy-Opern aufgreift.

Eine zweite erhellende Komponente von Sarembas Vortrag war der geistes- und vor allem kunstgeschichtliche Kontext der englischen Musik im 19. Jahrhundert. Wichtig und einflussreich war hier vor allem die Malerei und Ästhetik der Präraffaeliten, einer Malerschule, die in den 1840er Jahren entstand und noch bis zum Ende des Jahrhunderts prägende Wirkung ausübte – durchaus über die Bildende Kunst hinaus. Die Präraffaeliten übernahmen von den deutschen Nazarenern die Forderung nach Einfachheit und sittlichem Ernst in der Kunst, verzichteten aber auf deren fromme religiöse Fixierung. Die Abkehr vom Historismus ging einher mit scharfer Naturbeobachtung, die häufig allegorisch aufgeladen wurde.

Religiöse Motive wurden oft provokativ realistisch aufgefasst. John Everett Millais‘ Gemälde „Christus im Haus seiner Eltern“, das auf den ersten Blick nur eine naturalistisch gestaltete Zimmermannswerkstatt zeigt, machte seinerzeit Skandal. Ähnlich zeichnet Sullivan in seinem Oratorium „The Prodigal Son“ das biblische Gleichnis nicht in an­dachtsvoller Feierlichkeit, sondern als Drama zwischen lebenden Menschen. Sullivans Oratorium „Das Licht der Welt“ wurde inspiriert durch das gleichnamige Bild von William Holman Hunt; der Komponist hatte eine Kopie davon in seinem Arbeitszimmer hängen. Von John Byam Liston Shaws melancholischem Gemälde „Burenkrieg 1900“ führt laut Saremba eine direkte ästhetische Li­nie zu Sullivans zurückhaltendem „Boer War te Deum“, Edward Elgars Trauerode „For the Fallen“ und Benjamin Brittens „War Requiem“. Und wenn Ford Madox Brown auf seiner allegorischen Darstellung „Arbeit“ Personen aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis und aus dem öffentlichen Leben abbildete, so war der Weg nicht weit zu Elgars Idee, in einem Variationszyklus, den später so genannten „Enigma-Variationen“, Personen aus seinem Freundeskreis zu porträtieren.

Neues

Spuren dieses realistisch-allegorischen Den­kens und einer handfesten Transzendenz zie­hen sich bis in die Gegenwart. Ein faszinieren­des Beispiel bot das 8. Sinfoniekonzert des Philharmonischen Staatsorchesters mit dem 1. Kapellmeister Florian Csizmadia. James MacMillians 1995/96 entstandenes Orchester­werk „The World's Ransoming“ („Die Erlösung der Welt“), im Grunde eine sinfonische Dichtung mit obligatem Englischhorn, ist der erste Teil einer religiösen Orchestertrilogie, die den Bogen vom Gründonnerstag über Karfreitag bis zur Osternacht schlägt. In einer Atmosphäre des Abschieds überlagern sich hier Vorahnung und Erinnerung mit Impressionen von außen. Die Soli, eindringlich gespielt vom Soloenglischhornisten der Berliner Philharmoniker Dominik Wollenweber, spüren Jesu inneren Monologen und seinen Gesprächen mit den Jüngern nach, während immer wieder das Getriebe des Pessach-Festes und der Marschtritt römischer Trupps hineinklingen. Neben den eher dezenten Zitaten der gregorianischen Choralmelodien „Pange lingua“ und „Ubi caritas“ scheint als Kommentar sehr deutlich im Blechbläsersatz der protestantische Choral „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“ in Johann Sebastian Bachs Harmonisierung auf. Am Ende aber stehen als deutlicher Verweis auf den Karfreitag heftige peitschenartige Schläge auf eine Holzkiste.

Komplettiert wurde die erste Konzerthälfte mit der prägnant komponierten und dargebotenen Tondichtung „Dante und Beatrice“ des Elgar-Zeitgenossen und -Freundes Granville Ransome Bantock (1868-1946), die schon einmal, 1912, den Weg in ein Mainzer Sinfoniekonzert gefunden hatte. Den Abschluss bildeten, differenziert gespielt und mit fein empfundenem Spannungsbogen, Elgars „Enigma-Variationen“. Zu diesen hatte Kapellmeister Csizmadia, der in Hamburg über Elgar promoviert, in der Konzert-Einführung ein interessantes Detail beizutragen: Er bestätigte die verbreitete Vermutung, dass in der 11. Variation (mit den Initialen G.R.S.) die Bulldogge des Hereforder Kathedralorganisten George Roberston Sinclair porträtiert wird. In zeitgenössischen Zeitschriften fänden sich etli­che Karikaturen, die Sinclair mit seinem Hund zeigen, eine davon sogar mit vertauschten Köpfen. – Kein Wunder, dass auch Elgar vom musikalischen Establishment seines Landes misstrauisch beäugt wurde! In Deutschland war man damals offener. Das Niederrheinische Musikfest 1902 und Richard Strauss‘ berühmt­er Toast auf „Meister Elgar“ förderten seine Reputation gewaltig.

 

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