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v.l.n.r.: Maurice Daniel Ernst (Arpad) und Lásló Varga (Herr Maraczek). Foto: Dirk Rückschloss / Pixore Photography
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Emotionales Weihnachtsgeschäft: „Liebesbrief nach Ladenschluss“ in Annaberg-Buchholz

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Beim Erzgebirgischen Theater und Orchester setzt Intendant Moritz Gogg die Spezialitätensuche seines Vorgängers Ingolf Huhn fort. Die deutsche Erstaufführung der 2013 in Bratislava uraufgeführten Oper „Dorian Gray“ von Lubica Cekovska musste leider in eine spätere Spielzeit verschoben werden. Dafür stehen mit Ralph Benatzkys „Der reichste Mann der Welt“ und jetzt Jerry Bocks „Liebesbrief nach Ladenschluss“ feine Funde aus Operette und Musical auf dem Spielplan.

Im Eduard-von-Winterstein-Theater beherzigt man die Hygieneregeln auf den engen Gängen penibel. Zur zweiten Vorstellung des um mehrere Monate verschobenen Musical-Weihnachtsmärchens sitzen vor allem junge Gruppen im Saal. Sie delektieren sich mit eher feiner und lächelnder als lauter Zustimmung an den emotionalen Nöten der Angestellten einer Budapester Parfümerie. Dieses Universum der Düfte für die Dame und (nur manchmal) für den Herrn ist der ideale Schauplatz heteronormativer Kontaktanbahnung. Trotz Ermangelung von digitalen und sozialen Foren gestaltete sich vor 80 Jahren für Beziehungswillige das Flirten gar nicht so viel schwerer als jetzt: Unter Titeln wie „Parfümerie“ als Boulevardkomödie von Miklós László (1937), „Redezvous nach Ladenschluss“ als Film von Ernst Lubitsch (1940), „She Loves Me“ als Broadway-Musical von Jerry Bock (1963), im Wiener Ronacher 1999 und als inzwischen auch schon wieder nostalgische Hollywood-Komödie „E-Mail für dich“ mit Meg Ryan und Tom Hanks schlich sich das Sujet ins 21. Jahrhundert.

Jerry Bocks Fingerübung vor „Cabaret“ – übrigens mit dem Broadway-Debüt von Harold Prince – kam in Annaberg-Buchholz inklusive der darin fröhlich tanzenden Weihnachtspersonen fast zu spät. „Liebesbrief nach Ladenschluss“ sollte eigentlich die schöne Winter-Bescherung sein, verrutschte aber wegen Lockdown undsoweiter wie Humperdincks „Hänsel und Gretel“ Richtung Fastenzeit. Wenig Glück hatte das neue Team mit Erich Zeisls Oper „Leonce und Lena“, von der über die Hälfte der vorgesehenen Vorstellungen entfallen musste.

Die Erwartungshaltung war auch deshalb hoch, weil das Eduard-von-Winterstein-Theater für die Benatzky-Entdeckung „Der reichste Mann der Mann der Welt“ und deren ernst-burlesker Inszenierung durch Christian von Götz den Operetten-Frosch des Bayerischen Rundfunks, eine führende Kür des Genres, einheimste. Mit „Liebesbrief nach Ladenschluss“ gelingt eine weitere Entdeckung, die bei der wegen Corona noch immer auf 13 Musiker*innen begrenzten Orchesterstärke gut funktioniert. Es ist symptomatisch, dass die Keyboard-Läufe zu Beginn im akustischen Ungefähr zwischen Akkordeon und Zymbal bleiben. Der Abend gerät auch durch die Erzgebirgische Philharmonie Aue zum Tummelplatz intelligenter Unterhaltung – zusammengehalten von einem agilen und spielhungrigen Ensemble. Am Pult sorgt Dieter Klug für eine umsichtige wie inspirationsfreudige Kolorit-Palette und kostet die bei Bock durchaus vorhandenen, in der Ronacher-Instrumentation vielleicht sogar noch deutlicheren Hungarismen aus. Diese sind hier bei weitem nicht so massiv wie in den bekannteren Paprika-Operetten. Müssen auch nicht: Das Stück spielt überall, wo der physische Einzelhandel noch Chancen gegen die digitalen Kaufhäuser hat.

Vielleicht trieb man das Bemühen um Zeitlosigkeit mit viel dramaturgischem Poesie-Zierrat doch etwas zu weit. Kranich-Silhouetten malte Sandra Linde auf ihre Prospekte. Drei Ladentresen und zwei Betten machen fast die gesamte Ausstattung. Anna Bineta Diouf spielt eine gewisse Ilona Ritter und Vollblut-Person, die Abfuhren mit Liebenswürdigkeit herauswuchtet. Madelaine Vogt als Amalia Balash zelebriert gleich drei Epochen idealer Fraulichkeit, tut das vormodern und modern, charismatisch und selbstbewusst. Ihr hoher Sopran segelt indes zu neuen Partien-Ufern, die verstärkt im Musical liegen könnten.

Es ist fast ein bisschen enttäuschend, dass Dominik Wilgenbus – der Humanist und Poet – bei seinem Regiedebüt im südlichen Erzgebirge keinen Überbau geschaffen hat wie jüngst zu Johann Christian Bachs „La clemenza di Scipione“ in Eisenach. Dabei kokettiert „She Loves Me“ hinter dem Konversationsgetändel in hohen literarischen Sphären. Mit ihren Korrespondenzen drücken sich die Figuren im physischen Leben viel zu lange aneinander vorbei, tauschen beim Schreiben die Prosa der Alltagsniederungen mit der hohen Poesie.

Maurice Daniel Ernst (Arpad), Richard Glöckner (Kodaly) und Nick Körber (Glöckner) sind alle drei wendig, dünn und großäugig. Prototypisch stehen sie für ein emotionales Darben, welches die Soziologie eher für ein Phänomen der Gegenwart als des mittleren 20. Jahrhunderts definiert. Viel Lamé, Schlaghosen mit gigantischem Fußsaum und Accessoires liebäugeln ins Epizentrum der Audrey-Hepburn-Ära und die drei jungen Herren liebäugeln kräftig mit. Sie zeigen, wie man in Zukunft klug und zeitgerecht mit derlei Balz- und Bagger-Repertoire umgehen darf. Jason-Nandor Tomory (Ladislav Sipos) und László Varga (Herr Maraczek) geben Boulevard-Recken, die den früheren Schrot und Korn wegpacken.

Schöne Musiknummern bietet Jerry Bock. Der Sound macht Lust und Laune, Höhepunkte wie die ironische Paraphrase von Ravels „Bolero“ sitzen und knacken. Das fanden auch die mehrheitsfähige Publikumsgruppe U20. Viel Applaus für alle inklusive die erzwungenermaßen auf Madrigalensemble ausgedünnte Chorgruppe (Leitung: Jens Olaf Buhrow) und die perfekte, weil unauffällig mit der szenischen Leistung verblendete Choreographie von Vladimir Golubchyk. Ab 9. Juli unternimmt das Ensemble auf der Naturbühne Greifensteine den Kurswechsel Richtung Schlager-Mania. Dort geht es mit Roland-Kaiser-Evergreens nach „Santa Maria“.

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