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Es geht auch ohne nackte Haut: Alban Bergs komplette „Lulu“ in Wiesbaden

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Ein größerer Gegensatz zweier kurz aufeinander folgender „Lulu“-Inszenierungen, die teilweise sogar mit den selben Solisten besetzt sind, ist kaum denkbar, als zwischen der Inszenierung von Calixto Bieito in Basel und der Eröffnungsinszenierung der Maifestspiele Wiesbaden durch Konstanze Lauterbach.

Hatte der katalanische Regisseur die ins Heute verlegte Geschichte konsequent sexualisiert, so betont die deutsche Regisseurin in ihrer heutigen, sehr weiblichen Sicht, unter völligem Verzicht auf Nacktheit, aber kaum weniger intensiv körpersprachlich, das Spielerische dieser Handlung: Ein theatraler Bilderreigen. tänzerisch und artistisch überhöht, aber auch direkt, Komik, Groteske und Drastik, Sand, Schaum, Blut und Sperma. Die Farbe Blutrot dominiert auch in den verschachtelt dekorativen Falträumen von Andreas Jander mit kulinarischen Fototapeten inszenierter Räume.

Alban Berg hat als Zeitraffer zwischen den beiden Bildern seines zweiten Aktes einen Stummfilm vorgeschrieben: Lauterbach verwendet hierfür Szenen aus Pabsts Stummfilm „Die Büchse der Pandora“ aus dem Jahre 1926, stimmig durch musikalische Schnittfolgen und (auch rückwärts ablaufende) Szenen. Unvertonte Dialoge hat die ursprünglich vom Schauspiel kommende Regisseurin verkürzt, aber melodramatisch auch Wedekind-Texte („Mein Fleisch heißt Lulu!“) und Börsenmaklerzahlenreihen ergänzt. Eine Augenweide sind die opulent originellen Kostüme, für die Konstanze Lauterbach ebenfalls verantwortlich zeichnet.

Zu einem besonderen dramatischen Höhepunkt wird in Wiesbaden der (in Basel gestrichene) Paris-Akt: die Geburtstagsfeier für die von Erpressern bedrängte Lulu als vorgebliche Gräfin Adelaide. Der Run auf die rapide steigenden und dann noch rascher auf Null fallenden Jungfrau-Aktien wird zur Schaumschlägerei, Tortenschacht und Rutschpartie des nun verdreifachten Ensembles, Beim Kampf Jeder gegen Jeden gestattet die rasante Inszenierung durch die parallel auf einem Bildschirm laufenden Filmszenen den Vergleich mit Alan Parkers „Bugsy Malone“, – und das Live-Erlebnis hält Stand. Verblüffenderweise spielt das Schlussbild nicht in London, sondern in den Slums einer dritten Welt, zu dem die vordem tonangebende erste Welt seit dem Börsenkrach abgesunken ist.

Insbesondere im Schlussakt, der Wiederkehr der Untoten als Freier der Straßenhure Lulu, schafft die bis ins Artistische gesteigerte Personenführung zahlreiche Verweise auf die musikalische Wiederkehr von Situationen.

Dirigent Marc Piollet arbeitet mit dem wohl disponierten Orchester des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden Nebenfiguren effektvoll heraus und betont die spätromantischen Wurzeln dieser Partitur. Sein Bemühen, den kompakten Klang möglichst kammermusikalisch zu halten, greift sogar in den weniger transparent orchestrierten Teilen der von Friedrich Cerha komplettierten Fassung.

Das um zwei Gäste angereicherte Wiesbadener Ensemble überzeugt durch seine dramatische Farbigkeit mit überdurchschnittlichen gesanglichen Leistungen. Der Australierin Emma Pearson gelingt die Titelpartie als sportiv heitere Kindfrau quirlig, mit müheloser Leichtigkeit. Ute Döring zeichnet die lesbische Gräfin Geschwitz betont weiblich; sprachlich außergewöhnlich gelingt ihr der melodramatische, exzessive Schlussmonolog. Bernd Hofmann gestaltet nicht nur den Schigolch, sondern – wohl mit Bezug auf die einleitenden Erdgeist-Quarten – auch den Prologus Tierbändiger.

Ungewöhnlich intensiv wächst Jud Perry als Mädchenhändler (Marquis) über seine vorausgehenden Rollengestaltungen als Prinz und Kammerdiener hinaus. Der Koreaner Hye-Soo Sonn als Rodrigo ist ein souveräner, schlanker Artist, Inga Lampert verkörpert nicht nur die Kunstgewerblerin sondern auch die (stumme) Verlobte des Dr. Schön, den Claudio Otelli als eitlen Parvenü charakterisiert. Sein Jack the Ripper ist ein von Haus aus wohlerzogener, liebenswerter Charakter mit der Nachtseite eines manischen Lustmörders, der versucht, seine Krankheit zu überwinden: ein Rollenprofil, das seine Baseler Leistung übersteigt. Erin Caves als Komponist Alwa Schön, gelingt in Wiesbaden eine runde, uneingeschränkte Leistung.

So weit es die Premieren-Abonnenten des Staatstheaters nicht vorzogen, bereits in der ersten Pause die Lokalität zu wechseln, bejubelte das Maifestspielpublikum den knapp vierstündigen Abend einhellig und emphatisch.

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