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Foto: Matthias Baus
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Es ist kompliziert – „Boris Godunow“ und „Secondhand-Zeit“ von Sergej Newski in Stuttgart

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An der Stuttgarter Staatsoper wurde Modest Mussorgskis „Boris Godunow“ mit Sergej Newskis neuem Stück „Secondhand-Zeit“ gekoppelt. Unser Kritiker sieht Probleme: „Diese Gleichzeitigkeit von Disparatem kann überfordern, zumal häufig keine zwingenden Verbindungen geschaffen werden.“ Aber er sieht auch eindrückliche Bilder der Regie Paul-Georg Dittrichs und eine souveräne musikalische Leitung durch Titus Engel.

„Das Gedächtnis lässt nach, aber das Herz erinnert sich an alles“, sagt die Frau des Kollaborateurs an der Stuttgarter Staatsoper, bevor der Zar Boris Godunow die Macht an seinen Sohn Fjodor weitergibt und in großer Einsamkeit stirbt. Der Satz stammt aus Swetlanas Alexijewitschs 2013 erschienenem Buch „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“, das auf Interviews basiert, die die Autorin mit leidgeprüften Bürgern des Sowjetregimes geführt hatte. Ein Blick zurück in die Vergangenheit auf unbewältigte Traumata, an die sich das Herz erinnert – so wie Boris Godunow durch den Geschichtsschreiber Pimen gewahr wird, dass er nur durch einen von ihm in Auftrag gegebenen Mord an die Macht gekommen ist. Und daran zerbricht. „Boris“ heißt die aufwändige Produktion der Stuttgarter Staatsoper, die das Festival „Futur II: Wer wollen wir gewesen sein?“ (bis 22. März) eröffnet und die Oper „Boris Godunow“ von Modest Mussorgski mit dem neu komponierten Musiktheater „Secondhand-Zeit“ von Sergej Newski verzahnt. Die sechs Protagonisten aus „Secondhand-Zeit“ werden von Solisten dargestellt, die auch Rollen in „Boris Godunow“ verkörpern. Zusätzlich haben sie stumme Doppelgänger, die in Videos, live gefilmt in der Königsloge der Stuttgarter Staatsoper, weitere semantische Ebenen dazufügen. Es ist kompliziert.

Der Abend beginnt fließend mit einem aus Klangfetzen bestehenden Prolog von Sergej Newski aus den Lautsprechern, zu dem apokalyptische Bilder von verschlammten Vögeln gezeigt werden (Video: Vincent Stefan), ehe die in beigen, ebenfalls verdreckten Bodysuits gekleideten Choristen mit schmutzigen Gesichtern (Kostüme: Pia Dederichs, Lena Schmid) die Szenerie bevölkern und stimmgewaltig um Erbarmen flehen (Chorleitung: Manuel Pujol). Der Palast, aus dem Boris Godunow (mit mächtigem Bass: Adam Palka) auftaucht, ist eine Mischung aus überdimensionaler Zarenkrone, Pavillon und Raumschiff (Bühne: Joki Tewes, Jana Findeklee). Dieser Zar im goldenen Einteiler sieht aus, als sei er einem Science-Fiction-Film entsprungen. Ausgewählte Untertanen bekommen von ihren Vorgesetzten auch ein Goldmäntelchen aus dem Nacken gezogen. Die neue Herrschaft ist installiert. Und Videosequenzen von Stalin bis Putin, die dazu über die runde Leinwand flimmern, schlagen den Bogen zur jüngsten Vergangenheit.

Die von Regisseur Paul-Georg Dittrich einmal in Gang gesetzte Bilderflut lässt den ganzen Abend über nicht nach. Bei der Kneipenszene wird die Milch direkt aus den Brüsten der Bardamen gezapft, kleine Zarewitschs verstärken das ohnehin schon üppige Personal. Und ständig laufen Videos über den Rundbogen, die ein Eigenleben entfalten, auf die Dauer nerven und ablenken vom eigentlichen Geschehen. Diese Gleichzeitigkeit von Disparatem kann überfordern, zumal häufig keine zwingenden Verbindungen geschaffen werden. Es gelingen der Regie aber auch eindrückliche Bilder, wenn der Chronist Pimen (mit schwarzem Bass: Goran Juric) von seinen eigenen Erzählsträngen gefesselt wird oder ein sozialistisches Propaganda-Mosaik eine stärkere Verortung schafft.

Dirigent Titus Engel bewältigt die Aufgabe, zwischen den musikalischen Welten zu wandern, mit großer Souveränität. Die Übergänge zwischen Mussorgski und Newski funktionieren unter seiner Leitung unmerklich und ohne Reibungsverluste. Es prallen Kontraste aufeinander – hier die folkloristisch gefärbte, eindringliche, vom Stuttgarter Staatsorchester und dem großartigen Staatsopernchor/Kinderchor bis zur Schmerzgrenze aufgedrehte Tonsprache Modest Mussorgskis, dort die experimentelle, durchaus spröde, mit gesprochenen Texten und Geräuschen durchsetzte Musik von Sergej Newski. Maria Theresa Ullrich (Xenias Amme) berührt als Mutter des Selbstmörders, die ihre Geschichte vom Suizid ihres 14-jährigen Sohnes in Etappen erzählt. Die Freiburgerin Carina Schmieger schafft in ihren Figuren Xenia und Die Geflüchtete eine Verbindung über die Traumatisierung dieser Frauen, die sie mit ihrem glasklaren Sopran ergründet. Elmar Gilbertsson (Grigori/Der Jüdische Partisan), Matthias Klink (Fürst Schuiski) und Petr Nekoranec (Der Gottesnarr/Der Obdachlose) leisten stimmlich wie darstellerisch Großes. Und Adam Palka ist nicht nur in der Wahnsinns-Szene ein eindrucksvoller, über grenzenlose stimmliche Reserven verfügender Boris Godunow. Das letzte Wort gehört aber den Protagonisten aus „Secondhand-Zeit“. Leider kann man die Geschichten der einzelnen nicht in Gänze verstehen, weil der Komponist die Texte teilweise übereinander schichtet. „Die Menschen sind weder schlecht noch gut“, sagt der Obdachlose, „es sind einfach Menschen, mehr nicht.“


  • Weitere Vorstellungen: 7./16./23. Febr., 2. März, 10./13. April.

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