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Familienaufstellung: Die „Young Opera Company“ führt Claude Viviers Oper „Kopernikus“ in der Freiburger Christuskirche auf

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So schlimm kann das wohl nicht sein mit dem Sterben: Es könnte eher eine spannende Erkundungsreise in fremde Welten sein zu ereignen – mehr grotesk als furchterregend, eher vergnüglich als tröstlich – und keineswegs als die so unvorstellbare Auflösung des Individuums. Zumindest legte dies der Deutungsansatz nahe, mit welchem sich die „Young Opera Compagny“ in der Christuskirche Freiburg die Oper „Kopernikus“ von Claude Vivier erschloss – als knallbuntes surreales Theater, das im Grenzbereich von Diesseits und Jenseits changiert und die Frage, wer hier noch lebt oder schon tot ist, nicht eindeutig beantwortet.

„Opera-Rituel de mort“ nennt Vivier sein 1979 entstandenes Werk. Liebe und Tod sind die zentralen Themen im Oeuvre des kanadischen Komponisten, der selbst 1983 von einem Strichjungen ermordet wurde, noch nicht 35 Jahre alt. Autobiographische Bezüge durchziehen es wie kaum ein anderes, und so ist die Auseinandersetzung mit dem Tod auch in „Kopernikus“ etwas ganz Eigenes, in einem Mix der verschiedensten religiös-philosophischen Vorstellungen. Das Mädchen Agni – der Name steht nicht nur für griechisch „Reinheit“, sondern bezeichnet auch den indischen Feuergott, der ins Totenreich führt – ist gestorben, doch ihre Seele ist noch nicht bereit zum endgültigen Loslassen. Im „Zwischenreich“ zwischen Leben und Tod begegnet sie merkwürdigen Gestalten, darunter dem Zauberer Merlin, Wolfgang Amadeus Mozart, der Königin der Nacht -  und Kopernikus, dem Entdecker ferner Welten und eines neuen Verständnisses vom Zentrum des Universums. Sie nehmen dem Kind die Angst vor dem Unbekannten, zeigen ihm die faszinierende Schönheit, die Reichhaltigkeit und Buntheit dieser Zwischenwelt, in der alles möglich ist – bis sie alle zusammen bereit sind, den letzten Schritt zu vollziehen, durch die große schwarze Tür, hinter den Spiegel, ins Nichts.

„Alice in Wonderland“ stand Pate zum anspielungsreich-verrätselten Libretto des Komponisten. Und an Skurrilität, an weiser Naivität und scheinbarer Unlogik steht es dem Vorbild nicht nach. Dass Vivier neben mehreren europäischen Idiomen auch eine Fantasiesprache verwendet, ist nur konsequent amgesichts eines märchenhaften Geschehens, dessen Reiz im Exotischen, ganz und gar Unalltäglichen,  ja im nicht-verstehen-Können liegt. Ein unkonventioneller Umgang mit der menschlichen Stimme unterstreicht das Moment des Verspielten,  vielleicht sogar gegen das verordnet Vernünftige Rebellierende: „Respektloses“ Pfeifen zum Gesang des anderen, Indianer-Tremolo (mit der flachen Hand auf den offenen Mund schlagen) und dergleichen mehr. Auch die sieben Instrumentalisten, die gleich den sieben Sängern auf der Bühne agieren sollen, bedienen sich aus dem Vorrat signalhafter, „kindlich“ anmutender Floskeln: der absteigender Quarte etwa, die fast leitmotivisch die Musik durchzieht und zu Beginn mit dem leisen Ausruf „Hejo“ kombiniert ist; von den Instrumentalisten gesungen wohlgemerkt – oder sind es die Sänger, die hier einige Schlaginstrumente bedienen müssen?

Mut beweist die „Young Opera Compagny“ mit dieser Produktion, und das Verdienst, sich dieser höchst anspruchsvollen Partitur angenommen zu haben, kann ihr nicht hoch genug angerechnet werden. Auch in Bezug darauf, dass es sich erst um die zweite Aufführung überhaupt in Deutschland handelte, der auch andernorts noch nichts viel vorausgegangen ist. Die 1993 von dem Dirigenten und Pianisten Klaus Simon gegründete freie Gruppe nahm sich ein halbes Jahr Zeit für die Proben, stellte mit einem Etat, über den jedes Opernhaus in verzweifeltes Gelächter ausbrechen würde, ein Musiktheater von beachtlicher Dichte und Überzeugungskraft auf die Bühne. Besser gesagt in den kirchlichen Altarraum; eine konsequente Entscheidung, die dem rituellen Charakter des Werkes Rechnung trug. Regisseur Hendrik Müller entzog sich allerdings  einer allzu übersinnlichen Sphäre und interessierte sich mehr für familiäre Beziehungen: Die Fabelfiguren, die nach Auskunft des Komponisten auch Agnis Träume sein könnten, sitzen als „Familie“ wartend am gedeckten Tisch, stürzen sich auf das hereinkommende Kind. Agni trägt von Anfang an sehr aggressive Züge, setzt sich zur Wehr, kämpft. Sie ist nicht einverstanden, sich diesem neuen „Familienverband“ einfügen zu sollen. Dass sich nach etlichen Rangeleien (schluchzend sucht die „große Schwester“ nach den Perlen ihrer gerissenen Kette) alle gegenseitig über den Haufen schießen, könnte auf eine mögliche Todesursache hinweisen: Familienkonflikte können ein Kind ins Grab bringen. Somit würde im „Moment, in dem die Kerze erlischt“ (Hendrik Müller), im Übergang vom Leben zum Tod, in einer gigantischen Familienaufstellung alles noch einmal durchgespielt. Dass allerdings zwischen den beiden Akten ein kleines Mädchen im weißen Nachthemd – ein reales Abbild der Agni - auf der Altar-Empore von seinem Laptop einen Brief an die Eltern abliest und vom paradiesischen Leben auf einer Wolke schwärmt, ist dann doch des Guten zuviel, katapultiert das mysteriöse Geschehen in die Banalität des Konkreten.

Die Deutung ist an sich nicht unstimmig, doch macht sie Viviers Fantasiewelten eher wieder diesseitig-eindimensional, nimmt ihnen die Tiefe der Problematik um Tod und Sterben. Da nützte auch nicht viel, dass Müller betonte, nur Fingerzeige geben, dem Publikum Spielraum für die eigenen Vorstellungen lassen zu wollen. Die entfachte vor allem Lena Lukjanova mit einer bizzaren Ausstaffierung  an grellbunt bemalten Kostümen und Schminkmasken, durch welche die Figuren teils wie aus de Commedia dell'arte, teils wie aus der Irrenanstalt des Jean Paul Marat entsprungen wirkten.  Ob stilvoll-streng im blauen Etuikleid, koloraturenhaft überdreht in grüngelbem Tüll, mit Bariton-Autorität im grünen Bademantel oder graumäusig in der Ecke kauernd – jeder der sieben Sänger charakterisiert so seinen „Spleen“ und auch seine Position in der „Familie“. Juliane Hollerbach als kongeniale Choreographin hat ihre Bewegungen bis ins Letzte durchgestylt, Rhythmus und Gestus der Musik angepasst, kann die Clownerie in bedrohliche Dramatik überführen oder in „lebende Bilder“ beruhigen - wie eine Pantomime erscheint das stilisiert bewegte Szenario, trotz der ständig präsenten, alles durchdringenden Stimmen.

Die visuelle Seite der Aufführung ist stark, doch sie lässt die Musik nicht ins Hintertreffen geraten. Ihre hohe Qualität, ihre Klangsinnlichkeit und emotionale Eindringlichkeit teilen sich in jedem Moment mit. Die ebenfalls Instrumentalisten der dem Opern-Ensemble eng verbundenen „Holst-Sinfonietta“ hat Dirigent Klaus Simon mit Akribie und Intensität im Griff. In ständigem Augenkontakt lenkt er auch die Stimmen von Svea Schildknecht, Dorothea Winkel, Uta Buchheister, Barbara Ostertag Neal Bamerjee, Ji-Su Park und Florian Kontaschak. die sich mit den gleißenden, scharfgeschnittenen Instrumentalklängen zu einem vielschichtigen Gewebe von beklemmender Schönheit und   Brillanz verbinden.

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