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Ensemble. Foto: © Monika Rittershaus
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Frankfurts Oper zeigt Meyerbeers „Vasco da Gama“ als interstellares Kolonialismusdrama

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Das Schiff ist seit Monaten unterwegs; für die Mannschaft wird Kontakt zu ihren Frauen hergestellt: per Skype auf dem Riesenbildschirm der Kommandozentrale – denn das Raumschiff fliegt zu neuen Sternenwelten. Da spielt der von Tilman Michael einstudierte Chor amüsant menschliche Geschichtchen: einem Vater wird sein inzwischen geborenes Baby gezeigt; eine junge Mutter hält die für „Pappi“ gemalte Zeichnung ins Kameraauge; eine dritte lockt bei der Heimkehr mit neuer Reizwäsche…

Regisseur Tobias Kratzer, Ausstatter Rainer Sellmaier und der für die historischen wie neuen Videozuspielungen verantwortliche Manuel Braun sind über die kritische Werkausgabe einen interpretatorischen Schritt hinausgegangen. Meyerbeers „L’Africaine“ wurde als historisch-dramaturgischer Wirrwarr zwischen Afrika und Indien über einhundert Jahre auf den Opernbühnen geboten; nahe der Uraufführung erschienen Jules Vernes utopische Romane - deshalb steht seit 2015 eindeutig Vasco da Gamas Aufbruch in die „andere neue Welt“ im Mittelpunkt – und das sind für das Bühnenteam heute Sternenwelten. Leser kennen dergleichen aus Peter Hamiltons Sci-Fi-Sagas, Filmfreunde durch „2001“, „Gravity“ und vor allem „Avatar“. So zeigt die Frankfurter Bühne eine künftige Verschmelzung von „Washington“ und „NASA-Zentrale“.

Zur Ouvertüre führt Assistentin Anna eine Kindergruppe herum; ein Junge ist völlig auf die neueste Rakete fixiert, wird verspottet und ausgegrenzt – Beginn der ehrgeizigen Vasco. Dann diskutiert ein in „Fortschrittler“ und „Konservative“ gespaltener Aufsichtsrat das Scheitern der letzten Mission, die nur der in seinem Raumanzug hereinplatzende Vasco überlebt hat. Seine aus der erahnten neuen Welt stammenden Zeugen sind die Humanoiden Selika und Nelusko – letzterer eine per Bodysuit zum bulligen Hünen gesteigerte Mischung aus Bodyguard, Berater und Sci-Fi-Monster, alle komplett blau wie die Na’vi im „Avatar“-Film. Auch weiterhin hat Regisseur Kratzer alles in sich stimmig transponiert. Vasco singt im 4.Akt ja mehr nicht „O Paradis“, sondern „O doux climat“ und nur da ist die florale „Exotik“ der neuen Welt zu wenig überzeugend bebildert. Dafür ist das Schlussbild gelungen: der weite Bühnenraum als schwarzes All mit einer fernen Planetenkugel; eine Quarantänezelle mit tödlichem Zauberbaum; Selikas Liebesverzweiflung, der Abschied von Vasco und seiner Ines, Selikas Todesrausch samt ihrer liebenden Vereinigung mit Vasco im schwerelosen „Raum-Ballett“ (vorgeführt von zwei an Drähten „schwebenden“ Stunt-Doubles im „Weltraum“) – da verschmolzen Personenregie, Bildvision und Klangzauber gekonnt.

Denn Meyerbeers Musik steht nicht quer zu all dem. Längst sind nach Strauss‘ „Zarathustra“ und Strauß-Walzer in „2001“ die Partituren großer Filme auf musiktheatralisch-symphonischem Topniveau angekommen. Wenn man akzeptiert, dass die Emotionen künftiger Menschen und außerirdischer Humanoiden ähnlich bleiben – dann liefert diese letzte Partitur Meyerbeers die Klanginnenwelt der Figuren. Das machte Antonello Manacorda mit dem Frankfurter Museumsorchester mal anrührend, mal dramatisch deutlich: da waren die lyrische Finesse und Delikatesse vieler Passagen für die wechselnden Gefühlslagen und da tobte der Sternensturm samt Scheitern des Raumschiffs, doch ohne leeres Dröhnen alter „Grand Opéra“.

Auf der Bühne ein Spitzenensemble ohne Starrummel. Bevor Wien und New York zuschlagen, bewies Michael Spyres in der Titelrolle, dass er derzeit an der Spitze des tenoralen Spezial-Fachs “lirico-eroico“ steht. Dass der „böse Bariton“ einen dem Tenor ebenbürtigen Bravo-Sturm erntete, bewies dem zweiten Gast Brian Mulligan, wie sehr sein bedrohlicher Nelusko sich alle Sympathien ersungen hatte. Und dann nur Stars aus dem gewachsenen oder jüngst engagierten Ensemble: Claudia Mahnke wollte die Rolle zurückgeben – und brillierte nun mit fremdartig geschmeidigem Körpereinsatz und bruchlos unangestrengt strömenden Mezzosopran. Kirsten MacKinnons Ines-Sopran kontrastierte glänzend. Bianca Andrews Anna war mehr als eine Nebenfigur und wie jede Männerrolle, etwa der Vasco-Konkurrent Don Pedro von Andreas Bauer präzise geführt und klang konturiert. Regisseur Kratzer und sein Team setzten einen politischen Schlusseffekt: dem Verlöschen Königin Selikas entsprach der Untergang ihrer Welt – Vascos Sternenkrieger stürmten ihren Stern, pflanzten ihre Fahne und nahmen eine neue Kolonie in Besitz. Meyerbeers Tragödie gilt im Kern ja auch für unsere bisherigen Weltraumeroberungen…

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