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Anna Prohaska und die Lautten Compagney beim Nürnberger Musikfest ION. Foto: Kathi Meier/Spiegelhof Fotografie
Anna Prohaska und die Lautten Compagney beim Nürnberger Musikfest ION. Foto: Kathi Meier/Spiegelhof Fotografie
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Freudensonne nach Trübsalstürmen – das Musikfest ION im 70. Jahr

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Zur Freude aller konnte die 70. Ausgabe des Musikfests ION Nürnberg dann doch noch vor Publikum stattfinden, ist aber gleichzeitig weiterhin mit Mitschnitten im Netz präsent. Eine Nachlese aus Vor-Ort-Eindrücken und Konservenbetrachtungen.

„So hat doch nach Trübsalstürmen die Freudensonne bald gelacht.“ Kaum eine Lebenssituation, für die es nicht die passende Textstelle in einer Bach-Kantate gäbe. Entsprechend naheliegend, aber auch sehr feinsinnig hatten Anna Prohaska und Wolfgang Katschner von der Lautten Compagney im Lockdown 2020 das CD-Programm „Redemption“ mit Kantatenausschnitten zusammengestellt. Die Freudensonnen niedriger Inzidenzzahlen machten es möglich, dass dieses dann zum Auftakt des 70. Musikfests ION tatsächlich in der Nürnberger Sebald-Kirche erstmals live vor Publikum erklingen konnte.

Die Beteiligten – vier Solisten der Capella Angelica steuerten exquisite Chorsätze bei – hatten sich hörbar gut auf die akustischen Gegebenheiten und das Musizieren auf Distanz eingestellt, und so entwickelte sich ein transparent-volltönender Gesamtklang mit aparten Raumeffekten. In diesem sorgfältig abgestimmten, auf hohem spieltechnischen Niveau angesiedelten Umfeld konnte Anna Prohaska ihren Bach-Gesang auf unnachahmliche Weise zelebrieren. Von einer fast instrumental fließenden Stimmführung aus drang sie immer wieder in dramatische geschärfte Textausdeutungen vor, gab einzelnen Worten mit höchster Vokalkontrolle Gewicht, ohne in Manieriertheiten abzugleiten.

Neben den virtuosen Passagen in „Ich ende behende mein irdisches Leben“ (aus BWV 57) oder „Wie zittern und wanken“ (BWV 105) berührte vor allem das warme, inwendige Leuchten von „Letzte Stunde brich herein“ (BWV 31), „Ich habe genug“ (BWV 82a) oder „Die Seele ruht in Jesu Händen“ (BWV 127).

Fürs Publikum vor Ort trübte einzig das grelle, für die Fernsehübertragung leider nötige Licht die intime Atmosphäre, auch zerstörte die Moderation den genau abgestimmten Spannungsbogen des Programms, das dafür aber nun als Mitschnitt in der BR-Mediathek und über die Festival-Webseite zur Verfügung steht.

Netz- und Radiomitschnitte

Dort machen weitere Videos eine häusliche Nachbereitung der Jubiläumsausgabe möglich. Beim Programm „Orgel united“ macht vor allem das Trio Organ Explosion mit seinem Gospel-Jazz Spaß, Freunde ätherischen Ensemblegesangs kommen bei Sjaella mit schönen Purcell-Arrangements und leider eher süßlichen zeitgenössischen Werken auf ihre Kosten.

Eine Besonderheit ist die rein instrumentale Streichquartett-Fassung, die Peter Lichtenthal (1780–1853) von Mozarts Requiem erstellt hat. Die reizvolle Rarität, die das mächtige Original oft auf den vierstimmigen Chorsatz reduziert und entsprechend bei Sätzen fürs Solistenquartett („Recordare“) ganz bei sich ist, wird vom Eliot Quartett gut realisiert und von einer aufwändigen Lichtgestaltung von Laurenz Theinert am „visual piano“ begleitet. Dessen „Mapping“ auf den Innenraum von St. Martha legt jedem Satz eine bestimmte geometrische Form zugrunde und überzeugt vor allem da, wo dieses die Architektur des Kirchenraums plastisch macht. Der Videomitschnitt fängt das gut ein, verspielt das immersive Potenzial allerdings durch konventionelle Schnitte auf die Instrumentalisten etwas.

Im Radio konnte man Wilfried Hillers „Schöpfung“ nachhören, das nach seiner Uraufführung 2017 nun erstmals vor größerem Publikum erklang (Mitschnitt online bei BR-Klassik). In dem knapp 40-minütigen Werk nach einem Libretto des früheren Nürnberger Regionalbischofs Stefan Ark Nitsche stellt Hiller zeitgenössische Fragen an die Schöpfungsgeschichte, die in der Übersetzung Martin Bubers zugrundeliegt. Das „klingende Mosaik“ – so Hillers Bezeichnung – wirkt im vierstimmigen Unisono-Stil Orff’scher Prägung und in den Perkussionspassagen archaisch-zwingend, bewegt sich an anderen Stellen („Melodien im Wasser“) aber auch in gefährlicher Nähe zu Meditationsmusik. Die Singphoniker mit Johannes Euler als faszinierend exaltiertem Countertenor-Solisten, das Ensemble Drumaturgia sowie Franziska Strohmayr (Violine) und Irmgard Gorzawski (Harfe) gaben dem eigenwilligen Opus eindringlich Kontur.

Orgel live

Wie gut „Neue Musik“ von vor knapp 20 Jahren gealtert ist, konnte der Berichterstatter live vor Ort auf der Baustelle St. Lorenz unter Ohrenschein nehmen. Der eminente Organist Martin Schmeding hielt beeindruckende Plädoyers für Thomas Daniel Schlees komplexes „Amen. Halleluja“ (2003) und Johannes Kalitzkes unwirklich glitzerndes „…mit gänzlich fremder Ähnlichkeit“ (2002) – beides Auftragswerke der ION. Die Bearbeitung der Schumann’schen „Waldszenen“ (Oskar Gottlieb Blarr) litt in einigen Sätzen unter zu schnellen Tempi, die manche Mittelstimme mulmig untergehen ließen, faszinierte dann aber auch, wenn etwa der „Vogel als Prophet“ Messiaen vorauszuahnen schien. Jehan Alains wunderbares „Le jardin suspendu“ und Max Regers über weite Strecken von fast zärtlicher Durchsichtigkeit geprägte Phantasie über „Straf mich nicht in deinem Zorn“ waren weitere Höhepunkte dieses auf schwindelerregendem Niveau gespielten Recitals.

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