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Musikerinnen und Musiker verlassen die Bühne, mischen sich unters Publikum reichen ihre kostbaren Instrumente an ZuhörerInnen weiter. Foto: Joerg Hejkal
Musikerinnen und Musiker verlassen die Bühne, mischen sich unters Publikum reichen ihre kostbaren Instrumente an ZuhörerInnen weiter. Foto: Joerg Hejkal
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Frühlingsaufruhr und Großstadtpolyphonien: Das Kölner Acht-Brücken-Festival 2019

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Was für ein Vertrauensbeweis: Musikerinnen und Musiker verlassen die Bühne, mischen sich unters Publikum reichen ihre kostbaren Instrumente an ZuhörerInnen weiter, leiten sie an, Töne zu streichen, in den kolossalen Gesamtklang von Dmitri Kourlandskis „Riot of Spring“ einzustimmen. Diesen hat, einem in Trance versetzten Bordun-Ton gleich, das SWR-Sinfonieorchester bereits in der vollbesetzten Kölner Philharmonie in schier unfassbarer Homogenität ausgebreitet. Zeremonienmeister ist Teodor Currentzis - selbst mit einer Violine ausgestattet und mit dem Bogen die Akteure in diesem kolossalen Gesamtgeschehen lenkend!

Im späteren Verlauf dieses musikalischen, auf repetitiver Struktur aufbauenden Frühlingstumultes beim Acht-Brücken-Festival durchbrechen harsche Technosounds und tiefe Subbässe die Ebene des Erwartbaren. Aber auch jenseits dieses vibrierenden Happening-Charakters zeigte sich der prominente Klangkörper mit seinem Stardirigenten in Bestform – nicht zuletzt in einer neuen, klangsinnlichen Auftragskomposition von Sergej Newski.

„Den städtischen Raum zum Instrument machen“ formulierte Intendant Louwrens Langevoort das Anliegen der Neunten Festivalausgabe. Zwei Wochen lang vereinen sich etablierte und freie Akteure, lassen komponierte und improvisierte Klänge kontrastieren, bereichern auch durch Tanz und Performance eine vielstimmige „Großstadtpolyphonie“. Wie viele musikalische Eindrücke am Tag gehen überhaupt? Hier lassen sich im Selbstversuch eigene Grenzen austesten.

Leidenschaftliche Performer

Viel Sinfonik bot etwa zweite Festival-Wochenende. Dafür taugte nicht zuletzt das umfangreiche Werk von Georges Aperghis, der bei der aktuellen Festivalausgabe besonders im Fokus steht. Unter Brad Lubmans Dirigat wird das WDR-Rundfunksinfonieorchester zur aufrührerischen Stimme in den hochverdichteten Texturen, um dann ebenso impulsiv in Christophe Bertrands grell instrumentiertem Klangstück „Mana“ einen Stern zum Leuchten zu bringen, der früh verglühte. (Bertrand schied im Alter von 29 freiwillig aus dem Leben).

Gerhard Stäbler widmete ein neu uraufgeführtes Werk den Müllfahrern von San Francisco. Das Stück imaginierte in der Kölner Philharmonie durchaus eine Art Arbeiteraufstand durch seine impulsiven rhythmischen und vokalen Signalwirkungen, durchmischt mit Worten des Beatpoeten Alan Ginsberg.

Was wäre die Neue Musik ohne leidenschaftliche Performer, die sich so ganz in ihre Sujets hineinfallen lassen! In dieser Hinsicht sorgte der Perkussionist Christian Dierstein für eine echte Sternstunde in Sachen verspielter Bühnenpräsenz in Aperghis lautpoetisch-perkussiven Stück „Le Corps a Corps“.

Spontane musikalische Grundlagenforschung

Das gediegene 50er-Jahre-Ambiente im Großen Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks assoziiert die ganze Kostbarkeit einer zeitgenössischen Musikkultur als Ausdruck einer freien Gesellschaft, die vor allem in den öffentlich-rechtlichen Rundfunksendern ihr Sprachrohr hat(te). An diesem Nachmittag bekamen Jazzmusiker an diesem Ort ihre Bühne. „States of Play“ heißt das aktuelle Projekt des Kölner Bassisten Sebastian Grams – und das zeigte, wie Jazz zur spontanen musikalischen Grundlagenforschung werden kann. Erfrischend freigeistig und farbenreich umspielt die Combo von Sebastian Grams den Sound der Großstadt, der musikalisches Material ist: Eingesampelte Stadt-Klänge, Stimmenfetzen aus einer Kneipe und einem Kölner Fußballstadion, Verkehrsgeräusche. Als schließlich die größte Glocke im Kölner Dom erklingt, ist das heftigste Crescendo der Band gerade gut genug, um musikalisch Paroli zu bieten. Grams Formation bedient auch den theatralischen Aspekt, was dieses Projekt auch wieder mit dem Œuvre von Georges Aperghis seelenverwandt erscheinen lässt: Wo Christian Dierstein in seinem Solostück phasenweise tonlos trommelt, während die Trommelschlegel unerreichbar in der Luft schweben, da dürfen sich in Grams aktueller Band einige Instrumente ganz ohne Spieler selbsttätig austoben – ein Klavier ohne Pianist, eine modifizierte Tuba mit seltsamen Schläuchen und Kompressoren sowie ein Fagott, das wie mit einem Segway gekreuzt aussieht, agieren als autonome „Musikroboter“.

Da sich dieses Festival im ganzen Kölner Raum ausbreitet, gilt es oft, in sportlicher Eile zwischen weit voneinander entfernten Spielstätten zu pendeln. Da prägen sich dem Besucher zwangsläufig viele Stadtansichten ein, wie sich auch die hervorragenden Programmheft-Fotografien von Jörg Hejkal mit lässiger Beiläufigkeit ins Bewusstsein einbrennen.

Eins geht noch an diesem Tag: Schauplatz ist diesmal ein enges Gewölbe unmittelbar an einer Eisenbahntrasse. Dass die Stadt hier zum „Instrument“ wird, dafür sorgen die Gitarristen Thilo Ruck und Timm Roller sowie der Elektroniktüftler Maximilian Marcoll sowie circa mehrere dutzend Marshall-Verstärker. Repetitive stoische Klangereignisse aus zwei E-Gitarren werden moduliert und komprimiert, bzw. so erläuterte es Maximilian Marcoll hinterher, wird die Amplitude ständig verändert. Was an wummernden, schwirrenden Klangtexturen ein versunken lauschendes Publikum in seinen Bann zieht, bietet auf jeden Fall genug Assoziationsräume für die urbane Unterwelt. Eisenbahn? Luftschutzkeller? Unterwelt. Großstadtpolyphonie!

Noch bis zum 11. Mai können in Köln vielfältige ästhetische Streifzüge unternommen werden.

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