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DIE POSTSTATION - (LA DILIGENZA A JOIGNY). Foto: Neuburger Kammeroper.
DIE POSTSTATION - (LA DILIGENZA A JOIGNY). Foto: Neuburger Kammeroper.
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Fundstück Nr. 54: Die Neuburger Kammeroper entdeckt Giuseppe Moscas „Die Poststation“

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In Neuburg an der Donau gibt es zum 54. Mal eine Opern-Rarität in deutscher Übersetzung. Wieder stellen Annette und Horst Vladar mit „La dilligenza a Joigny“ von Giuseppe Mosca ein Stück und einen Komponisten aus den Fußnoten heutiger Musikgeschichten vor. Die Komödie eines Rossini-Zeitgenossen aus dem Jahr 1813 bereitet auch im Juli 2022 Vergnügen.

Sie kommt ins Champagner-Alter. Nicht nur deshalb sollte man die für den heutigen Klassikbetrieb hoch-individuellen Projekte der Neuburger Kammeroper als „Neuburgeriaden“ feiern. Annette und Horst Vladar kreierten und etablieren mit dem Dirigenten Alois Rottenaicher einen heute individuellen Stil. Jahr für Jahr bringen sie in der zweiten Julihälfte im Stadttheater Neuburg eine Opernrarität heraus, die es noch nicht in den Fokus der historisch informierten Musikkreise geschafft hat. Die meist in einem fiktiven Biedermeier angesiedelten Opernkomödien, der mit zeitgemäßen Techniken pittoreske Ausstattungen von früher zitierende Bühnenbilder Michele Lorenzini und der ausgeprägte Eigenstil der Mitglieder des Orchesters des Akademischen Orchesterverbandes München machen diese Neuburgeriaden zu einer Kulturmarke von hoher Wiedererkennbarkeit, beliebt beim regionalen Publikum und bewundert von weither angereisten Experten.

Eine vergleichbar hohe Wiedererkennbarkeit kann man dem Komponisten der 1813 für Neapel kreierten komischen Oper „La dilligenza a Joigny“ – die Vladars machten aus dem italienischen „Postkutsche“ eine „Poststation“ – nicht bestätigen. Weil das zum 54. Spieljahr vorgesehene Werk „Che dura vince“ (Eine Rosskur) der immer im Doppelpack komponierenden Brüder Federico und Luigi Ricci wegen pandemischer Produktionshandicaps bereits zum zweiten Mal nicht realisiert werden konnte, kam man auf die Komödie von Giuseppe Mosca (1772-1839). Diese ist nicht zu verwechseln mit seinem ebenfalls zahlreiche Opern hinterlassenden Bruder Luigi Mosca (1775-1824). In Beziehung zu Gioachino Rossini und dem Bayer Simon Mayr, die damals auf der ganzen Apennin-Halbinsel Triumphe feierten, standen beide Brüder Mosca. Luigis „Italienerin in Algier“ von 1808, die von Rossinis heute noch gespielter Vertonung verdrängt wurde, gelangte 2003 beim Festival „Rossini in Wildbad“ zur Aufführung. Schon deshalb war die Entscheidung für eine Oper von Giuseppe Mosca, von dem im 21. Jahrhundert bis zur Neuburger Premiere am 23. Juli höchstwahrscheinlich noch keine einzige Note erklungen war, dort obligatorisch.

Man hörte allerdings nur in Ansätzen, dass und warum es 1812 zwischen Giuseppe Mosca und Rossini zu einem juristischen Streit wegen Plagiatsvorwürfen gekommen war. Mit zunehmender Erschließung des breiten Repertoires von 1810 weiß man, dass Rossini seine meisten kompositorischen Mittel nicht selbst erfunden hatte, sondern deren Erfindung ihm meistens wegen deren extremer Anwendung zugeschrieben wurde. Schon die Überprüfung des Standards dieser Jahre legitimiert die Aufführung einer solchen Rarität.

Die Arie der Constance klingt tatsächlich etwas zahmer und deshalb auch lieblicher als eine Primadonnen-Partie bei Rossini. Die koreanische Sopranistin Da-Yung Cho spielt eine Braut von fast adeligem Stimmklang und Selbstbewusstsein, die sich am Ende vom ihr gesanglich ebenbürtigen Offizier Derville (Semjon Bulinsky) zum Traualtar führen lassen kann. Giuseppe Palomba schlachtete in seinem Libretto nach der Komödie „Le collatéral ou La dilligence à Joigny“ (Der Begleitschaden) von Louis-Benoît Picard viele bekannte Lustspiel-Situationen aus. Hier ist es die wegen der verspäteten Anschlusskutsche etwas derangierte Schauspielerin Madame Santilier (Laura Faig), die vorm Start zur nächsten Erfolgsstation mit einem gewitzten Verwechslungsspiel die Karten neu mischt und eine Liebesheirat statt einer wirtschaftlich motivierten Vernunftsehe ermöglicht. Der Doktor Monricard (Horst Vladar), der vorgesehene Bräutigam Bellomo (Michael Hoffmann), der helfende Anwalt Pavaret (Patrick Ruyters) und die resolute Poststationswirtin Madeleine (Denise Felsecker) geben die dem Publikum des 19. Jahrhunderts nur zu gut vertrauten Operntypen.

Die Wiedererkennbarkeit und Wiederholung von Situationen und Figuren sind in den Neuburgeriaden mit perfekter Reinkultur entwickelt und kultiviert. Man hört in Giuseppe Moscas „Poststation“, wie ein ganzer Kontinent nicht nur romantisiert, sondern auch „rossinisiert“ wurde. Im tiefen Orchestergraben tasten sich die Musiker während der Ouvertüre sorgsam heran an die Instrumentaleffekte und kosten diese mit steigendem Mut immer beherzter und lustbetonter aus. Die virtuosen Anforderungen von 1810 mit Vorlieben für halsbrecherische Flöten- und Klarinettenkaskaden sind auch bei hochdotierten Klangkörpern gefürchtet.

Willkommen in einem Paradies der Musikarchäologie auch deshalb, weil hier mit echter und nicht nur behaupteter Individualität gespielt und musiziert wird. In den Metropolen von Budapest über Berlin bis Barcelona gleichen sich die Haltungen und der Gestus durch stilistische Normierungen ziemlich. Bei der Neuburger Kammeroper ist ein großer Anteil des spielerischen Ideals jener Zeit erhalten, als eine „Traviata“ in Neapel noch anders klang als auf deutsch in Nürnberg oder auf französisch in Nancy.

Das wirkt wie eine Orientierung an Kriterien der Nachhaltigkeit und Bio-Diversität, bei der mediterranes Saatgut mit geringfügigen Unterschieden der Reifezeiten auch zu leichten Abweichen der genuinen Geschmacksresultate führen kann. Mit anderen Worten: Die Neuburger Kammeroper leistet auch ein zukunftsfähiges, für die Festivallandschaft vorbildliches Produktmanagement, bei dem Schein und Sein authentisch übereinstimmen. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass der Jubel wieder einmal riesig war.

  • Besuchte Vorstellung: 24. Juli 2022 – wieder am 29., 30., 31. Juli 2022, 20.00 Uhr (Premiere: 23. Juli 2022)

 

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