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Foto: Teatro alla Scala
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Gala an der Scala – Viele Masken, aber kein Ball: Das Teatro alla Scala hat die neue Saison mit einem Fest der Musik eröffnet

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Traditionen sind dazu da, dass sie gepflegt werden. Während die Pandemie vieles von dem, was lange Zeit als unumstößlich galt, schlicht über den Haufen gefegt hat, gibt es doch einige wenige Meilensteine, die dem weltweit gerupften Kulturbetrieb nicht entrissen werden können.

Ein solch traditionsbeladener Fels ist mit dem Datum des 7. Dezember verknüpft. In Mailand ist dies der Tag des Stadtheiligen Ambrogio, standesgemäß der Auftakt zur neuen Opernsaison am Teatro alla Scala. Im Frühjahr war just dieses Haus in der lombardischen Metropole eines der ersten, das geschlossen werden musste. Nach vorsichtigen Mutmachern in den vergangenen Monaten ist der Theaterbetrieb jetzt auch hier wieder eingestellt worden. Doch die Inaugurazione wollte sich an der Scala auch 2020 niemand nehmen lassen.

Das ansonsten mit Paparazzi und sich prominent gebenden Premierengästen zum Bersten gefüllte Haus blieb aber diesmal gespenstisch leer. La Musica persönlich begrüßte im weißen Kleid das – ausgesperrte – Publikum. Eine Aktrice, an deren Fersen sich alsgleich die Kamera heftete, um durch menschenleere Foyers zur Bühne zu eilen und dort an Stelle der geplanten Neuinszenierung von Donizettis „Lucia di Lammermoor“ eine Gala zu filmen, die via Fernsehen per RAI und Arte mehr als 2,6 Millionen Menschen erreicht haben soll.

Also noch ein Kultur-Stream, kostenlos frei Haus geliefert, als gäbe es nicht längst schon mehr als genug solcher Ersatzformate, die nichts von real erlebter Kunst und Kultur zu ersetzen vermögen? Gewiss, doch dieses Streaming war anders, war wohl auch unverzichtbar, denn eine am 7. Dezember geschlossene Mailänder Scala ist schon ein Unding (hat es in der Geschichte lediglich nach den Bombenangriffen von 1943 sowie zur nachträglichen Renovierung vor knapp zwanzig Jahren gegeben), eine stille Scala an diesem Datum ist aber undenkbar.

„… um die Sterne wiederzusehen“

Intendant Dominique Meyer und Musikdirektor Riccardo Chailly haben sich stattdessen für eine Gala unter dem Titel „… a riveder le stelle“ entschieden. Dieses Zitat aus Dantes „Inferno“ ist kein Abgesang, sondern ein gleißender Hoffnungsschimmer: „Um die Sterne wiederzusehen“. Regisseur Davide Livermore hat den knapp dreistündigen Abend konzipiert und großartig in Szene gesetzt, wobei er gerne auch aus eigenen Bühnenproduktionen zitierte.

Zwei Dutzend der besten Sängerinnen und Sänger gaben sich die Ehre und wurden für dieses Fest der Musik von namhaften Modehäusern wie Dolce & Gabbana und Armani eingekleidet. Die Bühne selbst bestand zumeist nur aus ein paar hölzernen Böden, die in ein flaches Wasserbecken hinein gezimmert worden sind. Hübsche Spiegelbilder ergaben sich da, Abgründe und Inseln, Reflexionen auch unseres heutigen Seins. Imposanter jedoch waren die Kulissen, die neben reichlich Videokunst auch stimmungsvolle Bilder zu zaubern vermochten, die von diversem Widerstand gegen Bedrohung geprägt waren. Freiheitskämpfe allemal, ob der Pariser Kommune entlehnt, der italienischen Wiedergeburt oder der russischen Revolution, an die ein Salonwagen inmitten einer Winterlandschaft erinnerte, der durchaus dem Set zu „Doktor Schiwago“ entnommen sein konnte.

Für Riccardo Chailly soll es das erste Mal gewesen sein, dass er ein Konzert ohne Publikum dirigiert hat. Ebenso wie alle auf einem Vorbau über den ersten Parkettreihen abstandsvoll agierenden Musikerinnen und Musiker des Orchesters, ausgenommen die durch Plexiglasscheiben voneinander getrennten Bläser, arbeitete auch er mit Mundschutz. Jedes Detail, jede Geste wirkte wie Mosaiksteinchen, die als Ganzes die Botschaft ergeben könnten, durch dieses Tal müsse man jetzt durch, gemeinsam, um eines Tages auch ein gemeinsames Wiederaufblühen erleben zu können. Während der Dirigent das ungewohnt leere Auditorium im Blick hatte – lediglich in Chorszenen wurden die Logen jeweils einzeln von Sängerinnen und Sängern besetzt –, fand hinter seinem Rücken die Aktion statt.

Ausschnitte aus Verdis „Rigoletto“ – klangschön „Cortigiani, vil razza dannata“ mit Luca Salsi, in strahleschöner Leichtigkeit „La donna è mobile“ aus „Rigoletto“ mit Vittorio Grigolo – wechselten mit zu Herzen gehenden Szenen aus „Don Carlo“ und dem noblen Bassbariton Ildar Abdrazakovs („Ella giammai m’amò“). Eine verzweifelte Reise in tödliche Trostlosigkeit, in derselben Kulisse mit Schnee und Stacheldraht drohte einmal mehr die unmenschliche Strafe für alles Rebellische: „Per me giunto“ aus „Don Carlo“ – Ludovic Tézier wusste die Tragik dieses Moments zu beherrschen, der Zug ist zum Stillstand gekommen, ein Schuss in den Rücken, ein stummer Carlo sah dem Freund beim Sterben zu. Aus dem Schnee ging es gleich wieder zurück in den Salonwagen: „O don fatale“ sang Elina Garanča und war an Dramatik kaum zu überbieten, Chailly ließ die bassigen Kontrapunkte dazu geradezu knallen.

Szenenwechsel: Ein großflächiges Strandvideo nebst pittoresken Arrangements auf der gefluteten Bühne, über die gewatet wird, während sich Lisette Oropesa scheinbar mühelos in himmlische Stimmhöhen aufschwang, um in „Regnava nel silenzio“ aus Donizettis „Lucia di Lammermoor“ zu brillieren. Was hätte das für eine Premiere werden können!

Szenenwechsel aber auch immer mal wieder am Bildschirm, der Schauspielerinnen und Mimen mit unterschiedlichsten Zitaten von Dante über Jean Racine bis Victor Hugo und Antonio Gramsci zu Wort kommen ließ. Dass Oper eine reiche Kunst, aber keine Kunst nur für die Reichen sei, sollte bis zum kommenden Jahr bitte nicht vergessen werden. Klassische Musik ist für alle Menschen bereichernd.

Großartige Verzweiflungskunst gelang Kristīne Opolais beim gesungenen Abschied in der Arie „Tu, tu piccolo Iddio“ aus Puccinis „Madama Butterfly“, bevor es einen Bruch von der Italianità hin zum Welttheater Richard Wagners gab. Unter einer himmelblauen Erdkugel besangen Camilla Nylund, mit sattem Gold in der Stimme, sowie Andreas Schager, silbrig klar (mit klitzekleinen Wacklern), Wagners „Winterstürme“ aus „Die Walküre“ – ein auch in ihren Kontrasten ideal harmonierendes Paar, dessen güldene Baumlandschaft in einem Flammenmeer aufgehen muss, bis endlich das Schwert Nothung gezückt werden kann.

Nach dieser Aufzeichnung ein weiterer Sprung: Auf einer Vespa ging es hinein in die Cinecittà – Kino sei Oper, hieß es, die Welt des Theaters stecke voller Emotionen; eine passende Reverenz für Federico Fellini. Da durfte denn auch mal – zu Donizettis „So anch’io la virtù magica“ aus „Don Pasquale“, prachtvoll gesungen von Rosa Feola – eine nachgestaltete Lancia Aurelia aus der Traumkulisse durch die römischen Lüfte gleiten. In aller Tragik dieser Operngala steckte also durchaus auch Witz, gab es Reminiszenzen an „La Strada“ mit einer traurig schönen Giulietta Masina, die von Juan Diego Flórez mit verinnerlichter Eleganz in Donizettis „Una furtiva lagrima“ aus „Der Liebestrank“ emotional aufgefangen worden sind.

Nach einem Abstecher zu Puccinis „Turandot“ und Aleksandra Kurzak mit einem sonoren „Signore, ascolta!“ überraschte ein abrupter Sprung in Bizets „Carmen“-Vorspiel, gefolgt von der „Habanera“ mit Marianne Crebassa und warmem, vollem Timbre vor einem gewaltigen Blütenmeer. Blümerant ging es weiter, als Piotr Beczała vor giftroten Dornenkelchen samtig „La fleur que tu m’avais jetée“ anstimmte, um dann endlich mit Eleonora Buratto und George Petean in Verdis „Ein Maskenball“ zu landen. Nach „Morrò, ma prima in grazia“ und „Eri tu“ vor einer Hitchcock-artigen Vogelkulisse wechselte Francesco Meli an den Präsidententisch mit Rotem Telefon und zeitgeistig drohenden US-Flaggen, um „Ma se m’è forza perderti“ anzustimmen.

Eine blutige Orgie zelebrierte Benjamin Bernheim in „Pourquoi me réveiller“ aus Massenets „Werther“, bevor Carlos Álvarez mit „Credo“ aus Verdis „Otello“ eine feierlich verstörende Vereidigungsszene vor der Kulisse des Weißen Hauses gelang – mit kleinem Schönheitsfehler: Weiß-Haus-Land ist abgebrannt. Livermore und seine Ausstatter haben also durchaus Kontexte gestaltet.

Katastrophenszenen mit entweder glücklichem Ausgang oder aber zumindest bleibender Hoffnung – wo wäre dies weniger präsent als in Giordanos Freiheitsoper „Andrea Chénier“? Vor einem Wäldchen silberner Mikrofone sang Plácido Domingo daraus das Bekenntnis „Nemico della patria“ – mehr Timbre als Pathos, aber mit Stärke in nobler Ausstrahlung; stets seiner eigenen Größe bewusst, absolut passend für diese Vaterlandsrolle, dahinter flirrten Projektionen von mehr oder minder gescheiterten Personen der Weltgeschichte. Ähnlich zu Herzen gehend auch Sonya Yoncheva mit „La mamma morta“, selbstbewusste Dramatik über strahlendem Orchesterklang.

„… a riverde le stelle“

Zwischen all diesen Opernausschnitten gab es mehrere Ausflüge in den Ballettsaal der Scala und wurden, um die stilistische Vielfalt des Hauses abzubilden, vorab aufgezeichnete Szenen eingespielt. Da ist der legendäre Rudolf Nurejew zitiert worden, hat Roberto Bolle in futuristischer 3D-Laserprojektion „Waves“ präsentiert und gab es eine „Verdi Suite“ fürs Auge.

Vor der Kulisse von Engelsburg, Tiber und Petersdom in animierten Historienbildern schmachtete Roberto Alagna „E lucevan le stelle“ aus Puccinis „Tosca“, in dessen „Turandot“ sollte Jonas Kaufmann mit „Nessun dorma“ zu Wort kommen, der aber absagen musste und mit feierlich vokalem Farbrausch von Piotr Beczała ersetzt worden ist. Sanfter Chorgesang erscholl dazu aus den Logen des Hauses, ein kosmisches Treiben wurde auf der Bühne gezeigt – philosophisch überhöht könnte man meinen, wie klein wir doch sind im gewaltigen All, das wir erforschen, sogar besuchen und wo wir doch nur zu Gast sind.

Ein solches Gefüge von Ausgeliefertsein und Hoffnung unterstrich einmal mehr Marina Rebeka, die vor einem japanischen Tuschbild mit roter Sonne und schwarzem Dampfer Puccinis „Un bel dì, vedremo“ aus „Madama Butterfly“ intonierte. Ob vom Leben, ob von der Liebe oder gar von den Sternen – nur mithilfe der Kunst gelingen derartige Träume.

Zum Finale der Gala ging es wieder ins reale Leben, ins quasi ausgestorben wirkende Mailand von heute. Eleonora Buratto, Rosa Feola, Marianne Crebassa, Juan Diego Flórez, Luca Salsi und Miro Palazzi gestalteten „Tutto cangia“, das Finale aus Rossinis „Wilhelm Tell“ und nahmen das weltweite Publikum mit auf eine Flugreise durchs nächtliche Mailand mit seinen momentan so unerreichbaren Schönheiten. All diese irdischen Sterne und Sternstunden, irgendwann werden wir sie wiedersehen: „… a riverde le stelle“.

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