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Probenszene aus Weinbergs „Wir gratulieren!“. Foto: Konzerthaus Berlin
Probenszene aus Weinbergs „Wir gratulieren!“. Foto: Konzerthaus Berlin
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Geruchsoper in der Großraumküche: Deutsche Erstaufführung von Mieczyslaw Weinbergs „Wir gratulieren!“ im Konzerthaus Berlin

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Ausgelöst durch David Pountneys Inszenierung der Oper „Die Passagierin“, vor zwei Jahren bei den Bregenzer Festspielen, genießt das Oeuvre des Komponisten Mieczyslaw Weinberg (1919–1996) starkes Interesse. Die 1983 an der Moskauer Kammeroper uraufgeführte, vorwiegend tonale Oper „Wir gratulieren!“ erlebte in Henry Kochs Bearbeitung für Kammerorchester im Konzerthaus Berlin ihre bejubelte deutsche Erstaufführung.

Den Werner-Otto-Saal des Konzerthauses Berlin hat Stefan Bleidorn in eine Großraumküche verwandelt. An drei Seiten des lang gestreckten Küchentischs sind Publikumstribünen errichtet, hinter einer Fensterfront, der vierten Wand des Bühnenbildes, musizieren vierzehn Solisten der Kammerakademie Potsdam, hochherrschaftlich von Kerzenleuchtern beschienen. Wenn das Publikum den Saal betritt, wird es vom Geruch brutzelnder Zwiebeln  empfangen, und ein Huhn kackt auf den Kachelboden; noch vor Musikeinsatz wird es von der Köchin eingefangen, aber glücklicherweise nicht geköpft.

Die Köchin Bejlja, eine junge Witwe, knetet einen Teig aus Mehl und Eiern, – aggressiv gegen ihre Herrschaft und voller Sehnsucht nach einem neuen Partner. Der naht ihr in Gestalt des armen jüdischen Buchhändlers Reb Alter. Er vermag bei ihr ebenso mit den nacherzählten Geschichten aus seinen Büchern zu punkten, wie der junge Lakai Chaim, aus der Nachbarschaft, beim Dienstmädchen Fradl. Von der Madame des Hauses als „verfluchtes Pack“ und als „Fressen“ beschimpft, feiert die Dienerschaft am Ende Verlobung, daher der Titel.

Die tragikomische, in russischer Sprache komponierte Oper basiert auf dem Theaterstück „Masel tov“ von Scholem Alejchem, auf den auch die Handlung des Musicals „Anatevka“ zurückgeht; im Gegensatz zur spritzig-witzigen, deutschen Übersetzung durch Ulrike Patow schlägt Dramaturg Arno Lücker in der Aufführungsversion dann textlich doch auch den Bogen zum fiedelnden Milchmann Tevje.

Regisseur Titus Selge erzählt die kurzweilige Geschichte auf und unter dem langen Küchentisch kurzweilig und drastisch, mit heftig verspritzten, von Kaiser’s gesponserten Lebensmitteln. Die Paare lieben sich bevorzugt inmitten von gehacktem Gemüse, und das Serviermädchen läuft auch einmal mit Schuhen durch den auf dem Elektroherd köchelnden Suppentopf. Zum wichtigsten Buch in Alters Plastik-Bücherkoffer wird in Berlin Marx’ „Kapital“. Hinzu erfunden hat Selge einen stummen Diener, welcher – befrackt wie die Musiker im herrschaftlichen Bereich – beim finalen Quartett des ersten Aktes, als armer, jüdischer Schlucker, die Tafel umkreist. Szenisch pausenlos schließt sich der zweite Akt an. Dessen Vorspiel ist bebildert durch ein Video russischer, Fahnen schwingender Revolutionäre, einst und jetzt. Das Publikum in den ersten Reihen nimmt es wohlwollend in Kauf, vom lachend prustenden Dienstmädchen Fradl vollmundig bespuckt oder mit Kleidungsstücken beworfen zu werden. Für die letzten Takte der Opernhandlung verwandeln sich die vier Domestiken gar in Terroristen.

Weinbergs Partitur pendelt zwischen Heiterkeit und Melancholie, mit Klezmer, jüdisch intonierten Walzer-, Polka- und Galoppformen sowie aufgerauten Streicherakkorden. Nähe zu Schostakowitsch beweist diese Tonsprache in ihrer Liebe zur Drastik. Wenn Südfrüchte besungen werden, greift der Komponist zu grotesken Orientalismen. Bach und Khachaturians Säbeltanz werden zitiert. Kein Wunder, dass Weinberg auch mit Operetten Erfolg hatte. Reb Alters lustiges Lied von seinen nacheinander verstorbenen neun Brüdern zitiert ein jiddisches Volkslied, als ein Pendant zu den „Zehn kleinen Negerlein“, aber auch zu Abul Hassans Erzählung seiner infolge ihres Liebens „in den Tod getriebenen“ Brüder, in Peter Cornelius’ Komischer Oper „Der Barbier von Bagdad“.

Dirigent Vladimir Stoupel gelingt es überzeugend, aus Weinbergs ingredienzienreicher Rezeptur eine musikalisch zündende Menüfolge zu bereiten. Das knapp 90-minütige musikalische Kammerspiel wird auf hohem Niveau interpretiert. Die lyrische Koloratursopranistin Katia Guedes als glatzköpfige, herrische Madame, wird leider über die Maßen durch Mikroport verstärkt, was die anderen Sänger nicht nötig haben: die Sopranistin Anna Gütter als exzentrisch quirlige Fradl, die dramatische Mezzosopranistin Olivia Saragosa als komische, leider bisweilen detonierende und scharfe Köchin Bejlja, der virtuos singende und spielende Bariton Robert Elibay-Hartog als Chaim und allen voran der Tenor Jeff Martin als Reb Alter, mit fabelhafter Diktion, Intonation und heldischem Pep.

Die überbordende Spielfreude, diesseits und jenseits der Küchenfenster, provozierte beim Premierenpublikum stürmischen Applaus.

Weitere Aufführungen: 24. und 25. September 2012.
Deutschlandradio Kultur überträgt einen Mitschnitt der Premiere dieser Produktion am 13. 10. 2012 (zusammen mit Weinbergs Oper „Lady Magnesia“, aus dem Theater Erfurt).


 

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