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Konkrete Initiation auf der Bühne: Ben Janssen (als Dr. Khranich) zwischen Jana Marković und Tomi Wendt. (Copyright: Patrick Pfeiffer)
Konkrete Initiation auf der Bühne: Ben Janssen (als Dr. Khranich) zwischen Jana Marković und Tomi Wendt. (Copyright: Patrick Pfeiffer)
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Gordon Kampes „Gefährliche Operette“ – Szenische Uraufführung in Gießen

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Mit vier Uraufführungen in der Spielzeit 2023/24 setzt das Stadttheater Gießen unter seiner neuen Intendantin Simone Sterr einen ungewöhnlich starken Akzent beim zeitgenössischen Musiktheater. Die zweite dieser Premieren überrascht schon durch ihren Titel: Der Komponist Gordon Kampe (Jg. 1976) hat zusammen mit Ann-Christine Mecke einen Liedzyklus zur szenischen „Gefährliche Operette“ erweitert. Als „mutig, neu und zeitgemäß“ hat die Redaktion Operette des Bayerischen Rundfunks die Produktion mit dem BR-Klassik-„Frosch“ ausgezeichnet.

Das Signal in Richtung Zeitgenossenschaft ist deutlich: An prominenter Stelle auf der Homepage des Gießeners Theaters finden wir einen kurzen Essay von Amy Stebbins: unter dem Titel „Wozu brauchen wir neue Opern?“ Die Regisseurin und Librettistin beklagt eine erdrückende Gegenwart des Alten in den Opernspielplänen und empfindet sie – mit den Worten des Literaturwissenschaftlers Hans Ulrich Gumbrecht – als „Symptom eines Zeitgeistes, der von seiner eigenen Vergangenheit besessen ist“. Die Zukunft werde, nicht ohne Grund, von der Gesellschaft zunehmend als bedrohlich empfunden. Statt sich ihr zuzuwenden, flüchte man sich in die breite Gegenwart historischer Simultanitäten. (Als markante Parallelfälle eines Rückzugs auf Bilder und Fiktionen der historischen Erinnerungskultur könnten den Lesern hier der Brexit, Donald Trumps „Make America Great Again“ oder Wladimirs Putins zaristische Größenphantasien in den Sinn kommen.) Die heute kanonischen Werke seien aber zu ihrer Zeit „Spiegel ihrer Gegenwart und Proben für die Zukunft“ gewesen. Das große Potential der Oper liege darin, die „diskreten“ (das heißt „vereinzelten“) Phänomene der Gegenwart zu einem Ganzen zusammenzufassen und ihre Beziehungen sichtbar, hörbar und spürbar machen. Es geht demnach laut Stebbins nicht mehr darum, alte Geschichten wiederzukäuen und zu zerfleddern, sondern Gegenwart zu deuten und Zusammenhänge sichtbar zu machen. Erzählen statt Dekonstruieren heißt die Aufgabe, und die programmatische Devise lautet: „Oper ist die Kunstform unserer Tage.“

Eine erste spartenübergreifende Produktion zu Saison war schnell abgespielt. Elenea Tzavaras und Sarah Ritters Inszenierung von Gordon Kampes „Gefährlicher Operette“ ist zwar derzeit aus dem Spielplan verschwunden, kommt aber Ende März an der Jungen Oper in Stuttgart heraus und kehrt Ende Juni wieder nach Gießen zurück. Ob eine Operette heute zeitgemäß sein kann, ist eine interessante Frage. Lange galt die Gattung als überholte, vorgestrige Kunstform. Aber nicht zuletzt durch Volker Klotz’ spannendes Operettenbuch und Barrie Koskys wegweisende Inszenierungen ist sie viel von ihrem muffig-spießigem Image wieder losgeworden, und man hat ihren rebellischen, gesellschaftskritischen und selbstironischen Ursprung neu wahrgenommen. Wie steht es denn heutzutage, könnte man fragen, um die Sehnsucht nach Illusion? Und darf man nicht vermuten, dass einige markante Akteure in Politik und Gesellschaft in Wirklichkeit verkappte Operettenfiguren sind, die jemand versehentlich auf die Welt- statt auf die Theaterbühne entlassen hat?

Gordon Kampe hat für Gießen seinen ursprünglichen Liederzyklus „Schummellümmelleichen und schrille Tentakel“ für Countertenor und Kammerensemble von 2017, den er schon 2019 zur konzertanten „Gefährlichen Operette“ erweitert hatte, nochmals um drei Nummern ergänzt und für die Besetzung mit Mezzosopran und Bariton umgearbeitet. Jana Marković und Tomi Wendt erscheinen in der Gießener Spielfassung, die Ann-Christine Mecke entworfen hat, als typische extrovertierte Operettenfiguren. Mecke, die als Leiterin des Musiktheaters am Haus auch als Dramaturgin der Produktion fungiert, setzt den beiden eine Schauspiel-Rolle entgegen: Ben Janssen spielt den VHS-Dozenten Dr. Thorsten Khranich, dem sein Vortrag zum Thema „Operette in Geschichte und Gegenwart“ zusehends dadurch entgleitet, dass Musik und Figuren auf der Theaterbühne zum Leben erwachen und ihn in operettentypische Situationen hineinverwickeln. Khranich, so wie ihn Janssen zeichnet, ist nicht unsympathisch – einerseits gehemmtes Muttersöhnchen, andererseits leidenschaftlicher Operettenkenner, und im Grunde lässt er sich gerne in die gattungstypischen Rollenspiele, (selbst-) ironischen Pointen und Frivolitäten verwickeln. Der rote Faden seines Vortrags wird dabei zusehends dünner, stattdessen stürzt er sich zunehmend ins Bühnengeschehen. Er spielt mit, singt manchmal auch und erklimmt schließlich zum Finale im gelb glitzernden Trikot das Modell der großen grünen Torte, die Ausstatterin Elisabeth Vogetseder als eine Art vergiftete Süßigkeit auf die Bühne gestellt hat – vergiftet insofern, als sie mit der Farbe auf das „Pariser“ oder „Schweinfurter Grün“ anspielt; dieses war eine Modefarbe des 19. Jahrhundert, die in Deutschland 1882 wegen ihres Arsengehaltes verboten wurde. Von der Struktur her handelt es sich bei den Stück weniger um eine Operette als um eine durch Stichworte und szenische Übergänge geschickt verbundenen Nummernrevue mit immer denselben Darstellern in unterschiedlichen Rollen. „Gefährlich“ ist diese Revue aber allenfalls für Dr. Khranichs Verhaltenskorsett, das er dann lockert und ablegt. Eingeengt auf seinen doch recht speziellen Persönlichkeitstypus, bleibt das Ganze fürs breite Publikum ebenso vergnüglich wie harmlos.

Das Kammerorchester, bestehend aus Klavier, Posaune, Trompete, Klarinette, Geige, E-Gitarre und doppelt besetztem Schlagwerk, sitzt im Vordergrund. GMD Andreas Schüller dirigiert rechts von der Seite. Dass er sieben Jahre Chefdirigent an der Staatsoperette Dresden war, merkt man seinem geschickten Umgang mit den teils plakativen, teils filigranen Elementen von Gordon Kampes Partitur an. Teilweise tragen die einzelnen musikalischen Nummern die Namen operettentypischer Tanztypen wie „Cancan“, „Csardas“, „Polka“ und „Walzer“; bei anderen klingen solche zumindest durch. Das Interessante an der Partitur ist vor allem, wie Gordon die Modelle zuspitzt, verfeinert und dekonstruiert. Wenn im einleitenden „Cancan“ wegen der vermuteten Herkunft der Tanzbezeichnung vom französischen „canard“ (deutsch „Ente“) die Musik anfängt zu quaken und zu schnattern, spiegelt sich das auch in den Bewegungen der Darsteller. Später gehen die musikalischen Details eher im Bühnenspektakel unter. Nur selten nimmt die Musik Fahrt auf und schwingt sich, wie im „LOL“-Tango mit aufjauchzender E-Gitarre, zu einem operettentypischen Rauscherlebnis auf. Inhaltlich beschränken sich die Texte (mit Ausnahme einiger Pointen im Dialog) weitgehend auf Vergangenes. Aktuelles Geschehen beinhaltet nur die neu komponierte „Impfpolka“; sie zitiert übrigens Johann Strauss’ „Aeskulap-Polka“, die dieser 1853 für den Wiener Medizinerball schrieb. Leider übertönt das Orchester in der Regel die Sänger, sobald sie dahinter agieren; so ist der Gesangstext oft schlecht oder gar nicht zu verstehen. Insgesamt gilt: Etwas gegenwärtiger, zeitgenössischer, bissiger und weniger museal könnte man sich diese Aufführung schon vorstellen. Genießen kann man sie durchaus. Sie erzählt viel über die Operettentradition, und das Darsteller-Trio ist großartig.

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