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Foto: Deutschlandradio Kultur/rbb
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Im Dschungel: Musiktheater beim Ultraschall-Festival 2010 in Berlin

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„Innenwelten, Unterwelten“ titelte Rainer Pöllmann den von ihm kuratierten zweiten Teil des diesjährigen Ultraschall-Festivals. Auf geradezu beklemmende Weise löste seine Werkauswahl dieses Versprechen ein und entführte die Zuhörer in ein Labyrinth unwirklicher, teils alptraumhafter Klänge und musikalischer Zustände. Dass das Thema die Neugier geweckt hat und das Festival im Berliner Musikleben gut verankert ist, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass alle Aufführungen ausverkauft oder zumindest extrem gut besucht waren.

„Galaxy Hotel“ in den Sophiensälen eröffnete zunächst einen weißen Raum, eine stilisierte Wohnung. Die drei Schauspieler-Protagonisten (Armin Dallapiccola, Michael E. Kleine, Julian zu Klampen), die drei Generationen verkörpern, schreiten die Szenerie immer wieder in verschiedenen Wegen ab und stellen dabei im Dialog und in ihren Handlungen die Frage nach den Folgen, die es hat, diese Wege zu wählen und was es bedeuten würde, andere Möglichkeiten zu wählen. „Dieser Punkt ist alle denkbaren Positionen im Raum, alle denkbaren Bewegungen, die zu diesem Punkt führen und wieder von ihm weg, zu einer bestimmten Zeit“.

Das klingt zunächst verdächtig konstruiert, gewinnt aber nicht zuletzt durch die rituelle Ausformung des Geschehens und die Musik einen gewissen Sog und eine merkwürdige Eigendynamik. Immer wieder spiegeln Bilder von faszinierender einfachheit gleichnishaft die aufgeworfenen Fragen wider. Wenn beispielsweise am Ende nach vielen Kreuz- und Querwegen der Junge ein Modell des weißen Raumes in der Hand hält und mit einem Stift schwarz malt, und der Raum gleichzeitig durch geschickte Beleuchtung ebenfalls dunkler wird, als würde er mit eingefärbt. Vater und Großvater beleuchten ihre Modelle von oben mit der Taschenlampe - ein Scheinwerfer fällt genau auf den entsprechenden Punkt der Bühnenszenerie und strahlt den Jungen an. Wie umfassend beeinflussen andere die Wahrnehmungswelt eines Menschen, wie weit schränken sie die Sicht auf Möglichkeiten ein? Burkhart Friedrichs Musik unterlegt das rituell geformte Geschehen mit unruhigem Klangteppich. Die Instrumentalklänge des Ensemble Intégrale werden ergänzt durch Live-Elektronik; Musik und Szene wirken auf abstrakte Art verwoben.

Die Opera imaginaria „La Selva interior“ („Der Dschungel in unserer Seele“) des Argentiniers Marcelo Toledo sorgte beim Publikum für geteilte Meinungen. Das Musiktheaterstück beschäftigt sich mit dem Schriftsteller Horacio Quiroga, dessen Leben in unvorstellbarem Ausmaß von Gewalt, Tod und familiären Selbstmorden begleitet wurde, bis er sich krebskrank selbst das Leben nahm. Die „klangliche und visuelle Erkundung der Geister, Begierden und Ängste eines Schriftstellers, der für die Welt, der ich angehöre, von entscheidender Bedeutung war“ (Toledo) findet in diesem Werk auf verstörende Weise abstrakt statt. Es gibt keine eigentliche Handlung, Musik und Gesten allein deuten die verschiedenen extremen Seelenzustände an, die hier durchschritten werden.

Das Kammerensemble Berlin unter der Leitung von Manuel Nawri zeichnete das Aufeinandertreffen südamerikanischer und europäischer zeitgenössischer Musikkultur in den sehr unterschiedlich gestalteten Abschnitten spannungsvoll und detailliert nach. Am stärksten fokussiert sich Toledos musikalische Arbeitsweise wohl in der Szene, in der ein flach auf dem Boden liegender Kontrabass als Instrument fremder Kultur umgedeutet und hingebungsvoll bearbeitet wird, bis er exotisch anmutende, abstrakt-gequälte Klagegeräusche von sich gibt.

Den Neuen Vocalsolisten Stuttgart wurde eine schier unglaubliche stimmliche Wandlungsfähigkeit abverlangt, bis hin zur beeindruckend wirklichkeitsgetreuen Nachahmung der Tierstimmen im nächtlichen Dschungel. Claudia Doderer hat die Stimmungen optisch perfekt ergänzt durch ein ganz reduziertes Bühnenbild, das wirkungsvoller war als es jede illustrative Szenerie vermocht hätte. Zwei weiße seitliche Blenden mit verschlungenem Relief, in wechselnden Farben angeleuchtet. lassen durch unheilvolles Glühen die Intensität des inneren Dschungels, der inneren Hölle erahnen.

Noch einmal durchdenken sollte David Brynjar Franzson das Konzept seines „Guide for the Dead through the Underworld“. Der aus so genannten „hörbaren Ready-mades“ zusammengesetzte Zyklus wurde im Foyer und den roten und grünen Salons der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz aufgeführt. Eigentlich sollten elektronische Klänge zwischen den kurzen Stücken den akustischen Weg von einem Ort zum nächsten weisen. Wenn sich dann aber immer nach wenigen Minuten der ganze Zuhörer-Pulk wieder geräuschvoll in Bewegung gesetzt und am nächsten Podium Halt gemacht hatte, war die Spannung und der akustische Übergang verloren und man musste gedanklich wieder völlig neu ansetzen.

Das Berliner Ensemble adapter – erstmalig auf dem Ultraschall-Festival vertreten – spielte konzentriert und punktgenau, konnte aber die Vereinzelung der Stücke nicht verhindern. Man fragt sich, welchen Eindruck das Stück beispielsweise in einem halligen dunklen Raum erzielen würde, in dem die Musiker und Musikerinnen verteilt fest positioniert spielen und die Bewegung nur durch wechselnde gezielte Anleuchtung der Solisten erzeugt würden.

Bei José Sanchez-Verdus Musiktheaterstück „AURA“ griffen Inszenierung und Musik so passgenau ineinander wie selten. Auch hier entwickelt sich keine richtige Handlung, sondern es geht um Seelenzustände. Der junge Historiker Felipe soll für die Witwe Consuelo die Memoiren ihres verstorbenen Ehemannes, des Generals Llorente schreiben, bevor sie stirbt. Sie stellt ihm ihre junge Nichte Aura vor, in die sich Felipe verliebt. Im Verlauf der Zeit stellt sich die künstlich-puppenhaft wirkende Aura immer mehr als Imaginationsgestalt der uralten Consuelo dar, als unwirkliches Traumbild erschaffen, um eine Liebesbeziehung zu Felipe zu ermöglichen. Im Grunde genommen also die Fragestellung, inwieweit die Realität bei der amourösen Begegnung durch Imagination überlagert wird und die – in diesem Fall vergebliche Suche – nach einer durchschaubaren, klar erkennbaren Wirklichkeit hinter den verwirrenden, im Ungefähren bleibenden Bildern.

Entsprechend dieser Gefühls-Projektionen und als zentralem Moment des Werkes bildet Mascha Mazurs wandelbare weiße Bühne zunächst die Projektionsfläche und Täuschungs-, Verhüllungsszenerio für die kunstvoll eingepassten Videoeinspielungen von Jan Speckenbach. Wenn im Verlauf des Stückes die weißen Tücher, die die Leinwand bilden, von Felipe heruntergerissen werden im verzweifeltem Versuch, die Wirklichkeit dahinter zu entdecken, dann befinden sich dahinter Leere und noch mehr weiße Tücher, so dass die Bühne immer zerrissener aussieht, ohne dass irgendetwas durchschaubarer würde. Düster, geradezu gewalttätig intensiv wabern die Andeutungen durch Klang und Bild, dass hier kein Entkommen aus den Verstrickungen möglich sein wird und Begriffe wie Zeit und Individuum in einer merkwürdigen nebelhaften Verwirrung verschwinden. Auch bei dieser Produktion ergänzten die Neuen Vocalsolisten und das Kammerensemble Berlin ihre Parts mit hervorragender Perfektion unter der musikalischen Leitung des Komponisten zu einem klar umrissenen interpretatorischen Gesamtgefüge.

Das Statische, Verharrende an Sanchez-Verdus Musiktheaterstück spiegelt sich zugleich in der übergeordneten programmatischen Dramaturgie des Festivalblockes weder: Geradezu verstörend bildeten die unterschiedlichen Abende gemeinsam eine Schattenwelt, eine imaginär gestaltete Abfolge von Szenen, in der der Zuhörer kreisend verharrt und sich dem Thema immer wieder von neuen Seiten nähert.

Es bleibt die Neugier auf die Fortsetzung, die Frage, ob wohl nächstes Jahr die „Ober-, Über- und Außenwelten“ thematisiert werden und welche Ariadnefäden dorthin geleiten? 

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