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Staatskapelle Halle, Dirigent: Michael Wendeberg, auf der Bühne dahinter v.l.n.r.: Marie Friederike Schöder (Jana), Tehila Goldstein (Hennny). Foto: © Theater-, Oper und Orchester GmbH Halle, Foto: Falk Wenzel
Staatskapelle Halle, Dirigent: Michael Wendeberg, auf der Bühne dahinter v.l.n.r.: Marie Friederike Schöder (Jana), Tehila Goldstein (Hennny). Foto: © Theater-, Oper und Orchester GmbH Halle, Foto: Falk Wenzel
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In Klanggewittern – Die Oper Halle streamt die Sarah Nemtsovs Oper „Sacrifice"

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Es hat eine Weile gedauert, aber jetzt ist die Oper Halle auch dabei und bereichert den virtuellen Notspielplan, mit dem sich die Theater und Opernhäuser in Erinnerung halten. Für eine andere, eher bizarre lokale Schlagzeile jenseits jeder Kunstanstrengung sorgte kürzlich der Geschäftsführer der Theater, Oper und Orchester GmbH (TOOH) Stefan Rosinski.

Nachdem der Aufsichtsrat beschlossen hatte, dessen Vertrag nicht zu verlängern, fragten sich seine netzaktiven Fans, mehr noch seine zahlreichen Nicht-Fans, was er für den Rest der Kohabitation mit Opernchef Florian Lutz und danach wohl machen werde. Die verblüffende Teilantwort: Er bewirbt sich allen Ernstes für die Position des Kulturbeigeordneten der Stadt. In diesem Amt will er die dank ihres freundlich moderierenden Naturells allseits geschätzte Amtsinhaberin ablösen.

Da der nicht zum Rosinski-Fanclub gehörende Oberbürgermeister die kommunale Zuständigkeit für die TOOH selbst innehat, entdeckte Rosinski ganz überraschend sein Herz für die freie Szene. Die wolle er stärken, sagt er. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Nun ist die Bewerbung des bundesweit bekannten „Kulturmanagers“ mit dem Talent zur Negativ-PR für seinen Arbeitgeber erstmal nur ein Vorstoß. Aber Mehrheitsverhältnisse im Stadtrat (die das eigentlich verhindern müssten und können) sind das eine. Darauf, sich in der Politik Unterstützung zu organisieren, versteht sich Rosinski aber gut. Eine gewisse Chance (respektive Gefahr), Halle kulturpolitisch mit dieser Personalie zu einer Lachnummer für die Republik zu machen, besteht durchaus. Ende Mai wissen wir mehr.

Trotz allem: (Auch) hier gilt’s vor allem immer noch der Kunst. Und da kann die Oper eben nicht nur mit künstlerischen Pfunden wuchern, die beim Feuilleton und einem großen, aufgeschlossenen Teil des heimischen Publikums ins Gewicht fallen. In der Coronakrise kann sie im Rahmen des Online-Spielplans jetzt auch Nachprüfbares vorweisen. 

Wie mit Sarah Nemtsovs vieraktiger Oper „Sacrifice“ zu einem Text von Dirk Laucke. Wobei das – so gesagt – in die Irre führt. Hier sind weder die Musik, der Text oder deren Verhältnis zueinander irgendwie „klassisch“ konventionell. Und schon gar nicht die Uraufführungs-Inszenierung von Florian Lutz in der mit dem FAUST-Preis dekorierten  Raumbühne „Heterotopia“ von Sebastian Hannak  im März 2017 (siehe unsere Kritik von Roland H. Dippel).

Es geht in diesem Auftragswerk der Oper Halle um den Dschihad. Ein Thema, das hochpolitisch ist, aber ohne plakatives Appellieren aufgegriffen wird. „Sacrifice“ besteht in der ästhetischen Form und Überhöhung fast schon hermetisch auf seinem Kunst-Charakter.

Im Mittelpunkt steht dunkle Faszination des islamistischen Feldzugs gegen die Welt. Sie reißt zwei junge Mädchen aus ihrer hiesigen Lebenswirklichkeit in Sangerhausen und verführt sie zur Flucht in eine Parallelwelt. Das entsprechende Mantra der Fanatiker – „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“ – kommt in den kaum verständlichen Wortfetzen des Textes vor. Es ist der entscheidende dunkle Punkt gegen den sich rational kaum argumentieren lässt. Jana und Henny (Marie Friederike Schöder und Tehila Goldstein) begegnen auf ihrem Weg ins vermeintliche Paradies dem Flüchtling Azuz, der in die genau entgegen gesetzte Richtung unterwegs ist. Gerd Vogel meistert die Sprachlosigkeit des Mannes mit beeindruckenden Vokalisen.

Daheim verharren die Eltern der Mädchen in ihrer eigenen Ratlosigkeit und kleinbürgerlichen Enge. Als Mutter bügelt Anke Berndt – metaphorisch – eine Deutschlandfahne und sucht nach einer „Alternative“. Im Gegensatz dazu lädt der Vater (Vladislav Solodyagin) im T-Shirt mit Friedenstaube demonstrativ auftauchende Flüchtlinge ins Wohnzimmer ein. Das erschließt sich allein über die Bildsprache. 

Voll auf Sprache setzt die dritte Gruppe – die Reporter (Nils Thorben Bartling, Sybille Kress, Frank Schilcher), die die Bilder des Krieges und der Opfer liefern, immer wieder deren Wirkung abschätzen und über die eigene Schamlosigkeit dabei diskutieren. Freilich bleibt auch da der Text eher Nebensache. Es ist der entfesselte Klang- und Bilderrausch, der die Assoziationsräume öffnet. Im Theater und in der Übertragung.

Auch die Staatskapelle vermittelt unter Leitung von Michael Wendeberg, damals so wie heute, den Eindruck, als seien ihre Musiker voll bei der – höchst ungewöhnlichen – Sache. Generalmusikdirektoren kommen und gehen. Letzteres manchmal wie die letzte Kurzzeit GMD Ariane Matiakh noch bevor sie richtig begonnen haben. Zum Glück gibt es aber so zuverlässige und dem Neuen aufgeschlossene Dirigenten. Wendeberg legt sich übrigens auch bei den Internet-Angeboten der Oper als Pianist ins Zeug und ist mit seinen Klavierkonzerten präsent!

Erstaunlich bildschirmkompatibel

Szenisch und auch musikalisch erweist sich die spezielle Variante der Raumbühnenkonstellation als erstaunlich bildschirmkompatibel. Die Zuschauer sitzen in ansteigenden Reihen auf einer rotierenden Drehbühne. Sie sind so gleichsam Teil des Geschehens und geraten auch schon mal ins Visier von imaginären Zielfernrohren. Das Orchester ist zwischen Drehbühne und Zuschauerraum platziert. Die abgedeckte Bestuhlung bis hoch in den zweiten Rang ist ebenso wie die Seitenbühnen und die zugebaute Hinterfront Teil der Bühne. Was auf dem Bildschirm wie ein raffinierter Schnitt der Szenen wirkt und beeindruckt, entspricht nicht mal in vollem Umfang der suggestiv einsaugenden Wirkung, die das Ganze im Theater tatsächlich hatte. Aber selbst wenn man die Wirkung des Live-Erlebnisses der besonderen Art noch in Erinnerung hat, vermag die Aufzeichnung zu fesseln. Man muss sich natürlich auf die Reise ins Unbekannte einlassen, Vokalisen und wie Grummeln, Dröhnen oder Störungen in der Harmonie des Weltklangs daherkommende Katastrophen-Echos als Variante eines Orchesterklangs akzeptieren. Und sich davon gefangen nehmen lassen.

Im Klub der Zeitgenossen mit den offenen Fragen

Beim Streaming erschließt sich der Inhalt auch ohne Texteinblendungen vor allem über die Wucht der Bilder und die Assoziation der Klanggewitter. Packend ist dabei auch das Nachrauschen, das diese Exkursion ausführlich wie ein Epilog beschließt. Leider erkennt man in der Aufzeichnung nicht, die von der Komponistin in einer Einblendung zu Protokoll gegebene eigene Ratlosigkeit. „Was kann man tun? Was kann ich tun?“ so fragt sie nämlich angesichts der Wucht ihres Gegenstandes.

In der Aufzeichnung – noch mehr live im Theater – bleiben die pegidaähnlichen Fahnen und das aufgehende Sonnenzeichen am Horizont des zweiten Ranges wie ein Menetekel in Erinnerung. Und die ebenso beklemmenden Videoeinspielungen von Drohneneinsätzen samt der Explosionen am Boden. Und wir immer mittendrin. Auf der Drehbühne und jetzt vorm Bildschirm. Im Klub der Zeitgenossen mit den offenen Fragen. Zu dem auch die Komponistin, der Librettist und der Regisseur gehören. Schön daran ist, dass sie eine Videoaufzeichnung gemacht haben, die jetzt einen Eindruck davon vermittelt, wie spannend Musiktheater heute sein kann!

Seit dem 14.4.2020 zeigt die Oper Halle wöchentlich eine spannende Musiktheaterproduktion aus ihrem Programm. Auf Videostreams MEIN STAAT ALS FREUND UND GELIEBTE und der Uraufführung SACRIFICE folgen die ebenfalls von Florian Lutz‘ inszenierte Produktion MESSA DA REQUIEM aus der Raumbühne BABYLON und GROOVIN’ BODIES vom Ballett Rossa. Immer dienstags lädt Michael Wendeberg zum Konzert mit Mozarts KLAVIERSONATEN ein. 

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