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v.l.n.r.: Alexander Pensel, Matthias Walter, Ali Aykar. Foto: © Theater, Oper- und Orchester GmbH, Foto: Falk Wenzel
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Knallbunte Schicksale – Axel Ranischs „Nackt über Berlin“ im Opernhaus Halle

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Ein halbes Jahr nach dem Erscheinen gelangt der Debütroman „Nackt über Berlin“ von Axel Ranisch schon auf die Bühne und erweist sich dabei als im höheren Sinne außergewöhnliches Musiktheater neben der Spur. Denn durch klassische Musik artikuliert sich der übergewichtige Schüler Jannik und eröffnet damit nicht nur dem Vietnamesen Tai, in den er verliebt ist, das Tor zu einer idealen Welt. Mitten in Berlin. Ein spannender Theaterabend auf Sebastian Hannaks Raumbühne BABYLON im Opernhaus Halle

Zärtlichkeit und Amok prallen bei ihm mit Vollkrach aufeinander und leicht wird als Hörfehler ein Andante zu „al dente“. Sein weitgespanntes und doch unverkennbares Themenrepertoire hat der erklärt schwule 34jährige Filmemacher, Autor und Opernregisseur Axel Ranisch also: Coming of-Age-Geschichten und Menschen in zermürbenden Abhängigkeiten. Egal ob bei Haydns „Orlando Palatino“ zu den Münchner Opernfestspielen, in der Tatort-Folge „Waldlust“ oder kultigen Low-Budget Filmen wie „Ich fühl mich Disco“: Was den Humanisten, der Rosa von Praunheim und den Literaturkenner Gerhard Dahne seine geistigen Väter nennt, umtreibt, ist die Forderung nach gegenseitiger Wertschätzung, die in einer „Gesellschaft, die Gewinnoptimierung zu ihrem größten Ziel erklärt hat, nichts als ein ungeliebter Kostenfaktor ist“. Ranischs Sprache ist direkt, seine Menschenbilder alles andere als schön, die Sujets schmerzen.

Jetzt erlebte sein Debütroman „Nackt über Berlin“, eingerichtet und inszeniert von Henriette Hörnigk im Opernhaus Halle, nur ein halbes Jahr nach Erscheinen die dramatisierte Uraufführung. Diese ist der Beitrag des Neuen Theaters auf Sebastian Hannaks Raumbühne BABYLON, wo sich in vier Zyklen bis Ende der Spielzeit alle Sparten ein Stelldichein geben. Es ist erstaunlich, wie sich dieser Raum mit jedem Projekt ändert und wandelt. Man fühlt sich bei mehrfachen Besuchen heimisch in Babylon. Es ist wie bei einem Berlin-Besuch: Man spürt in der Unbehaustheit eine gewisse wohlige Vertrautheit.

Dabei wirkt „Nackt über Berlin“ wie die brutalere und tumultöse Antwort auf „Tschick“ und bei weitem nicht so optimistisch. Ganz im Gegenteil! Auch hier verfallen zwei jugendliche Außenseiter, erklärbar aus ihrer inneren Biographie, in Extreme. Jannik, genannt Fettie, panzert sich mit Übergewicht gegen Druck von außen. Er ist in den Vietnamesen Tai verliebt und wird deshalb vom Mitwisser zum Mittäter. Die Welt um die Hochhäuser an der Leipziger Straße in Berlin-Mitte gerät aus den Fugen. Denn Tai (was für eine Sympathiebombe ist dessen Darsteller Ali Aykar!) setzt seinen Schulrektor Jens Lamprecht, der um die zerbrechenden Beziehungen zu Frau und Sohn kämpft, nach dessen Sauftour in seinem noch unfertigen Hightech-Apartment fest. Tai konfrontiert den Pauker medial mit den Desastern seiner Vergangenheit, ohne selbst in Erscheinung zu treten. In der Darstellung durch Matthias Walter wird Lamprecht vom drahtigen Machtmenschen zum schmalen Hemd.

In Hörnigks bewegungsreicher Inszenierung sprudeln die Darsteller viel Text und treten aus den Szenen, so dass sich einige Details verflüchtigen. Die Zuschauer sitzen auf der rotierenden Drehscheibe in der Mitte der Raumbühne Babylon. Das Drama beginnt aber im Zuschauerraum auf einer Terrassentribüne. Allerdings nicht zwischen Fidschi und Fettie, sondern zwischen Lehrer und Schülerin: Melanie spielt beim Theaterlager in Flecken Zechlin die Wendla in Wedekinds Pubertätstragödie „Frühlingserwachen“. Wenig später springt sie vom Dach der Schule in den Tod. Weil Cynthia Cosima Erhardt eben nicht zerbrechlich, sondern energisch auftritt, gewinnt das folgende Dilemma an Schärfe: Melanies Affäre mit dem die Spielgruppe leitenden Lehrer hält Rektor Lamprecht zur Verhinderung eines Skandals geheim. Machtmissbrauch, Lügen, Sehnsüchte und verpasste Glücksmomente verstricken sich. Nicht nur die Jungen haben Probleme, sondern auch alle Elternteile ihre Traumata und gebrochenen Biografien. Diese Schicksale sind knallbunt wie die Kostüme von Angela Baumgart.

Die Hallenser Aufführung ist ein mit minimalen Abstrichen großartiger Abend. Sie kontert der situativen Überfülle mit Klangrausch und fixen Wechseln zwischen Gerüst, Seitenbühne und Zuschauerraum. Janniks „Ich liebe dich“ an Tai entringt sich ihm zu sehnsuchtsvollen Klaviertönen seines Idols Tschaikowski. Zwischen Tai und Jannik flirrt und funkt es den ganzen Abend. Nur zu Beginn ist ambivalent, wie Tai zu dem so „schwul rüberkommenden“ Jannik, den Alexander Pensel mit rhetorischer Verve über alle anderen Darsteller erhebt, steht. Als sich Jannik, entsetzt von Tais ausufernden Gewaltpotenzial, zurückzieht, kommt es zu ganz filigranen, ergreifenden Gefühlsaufwallungen des Vietnamesen. Ranisch und Hörnigk malen also nie schwarzweiß. Sondern sie untersuchen, warum und wie Hass auf den unteren Stufen der Abwärtsgesellschaft entsteht und eskaliert.

Großes Musik- und Romantheater der besonderen Art. Deshalb gehört es zu Recht nicht ins Schauspiel, sondern in die Oper. Alle Figuren wollen für die unterschiedlichsten Momente die genau richtige Musik von Jannik, der, bei Erscheinen des Romans war das sofort die meistzitierte Stelle, seinen liebeshungrigen Prügel zu den Klängen von Rachmaninoffs „Symphonischen Tänzen“ in die Matratze bohrt. Jannik, in dessen Zimmer ein Riesenporträt von Tschaikowski hängt, erzählt von Sibelius, Bottesini, Beethoven. Dann rauscht klassische Musik auf, bringt wie aus einer besseren Welt Glück und die im echten Leben so seltene Erfüllung. Kein Happy-End gibt es, aber offene Fragen. Perfide wird es ein letztes Mal, wenn die Psychologin (Edda Maria Wiersch) vom Schuldirektor, der im Wortsinn durch die Sch... ging, eine plausible Lüge fordert, um ihm die weitere Amtstauglichkeit bestätigen zu können. Langer, lauter Beifall.  

  • Nackt über Berlin (UA) in der Raumbühne BABYLON, neues theater Halle im Opernhaus – wieder am Samstag, 22. September 2018, 19.30 Uhr - Dienstag, 02. Oktober 2018, 19.30 Uhr - Samstag, 06. Oktober 2018, 19.30 Uhr - Freitag, 11. Januar 2019, 19.30 Uhr - Donnerstag, 17. Januar 2019, 19.30 Uhr - Dienstag, 22. Januar 2019, 19.30 Uhr - Dienstag, 26. März 2019, 19.30 Uhr - Donnerstag, 28. März 2019, 19.30 Uhr - Samstag, 15. Juni 2019, 19.30 Uhr - Mittwoch, 19. Juni 2019, 19.30 Uhr - Mittwoch, 26. Juni 2019, 19.30 Uhr

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