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Konzert mit Cecilia Bartoli. Foto: Peter Fischli / LUCERNE FESTIVAL
Konzert mit Cecilia Bartoli. Foto: Peter Fischli / LUCERNE FESTIVAL
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Koloratur-Battles und Corona-Klänge: Das Lucerne Festival 2020

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Eigentlich sind jeden Sommer rund 100 junge Musikerinnen und Musiker aus der ganzen Welt in Luzern, um sich bei der Lucerne Festival Academy unter der Leitung des Karlsruher Komponisten Wolfgang Rihm ausschließlich mit Musik des 20. und 21. Jahrhunderts zu beschäftigen. Dieses Jahr wurde die 2003 von Pierre Boulez gegründete Akademie erstmals abgesagt, aber Intendant Michael Haefliger konnte zumindest ein Konzert der Lucerne Festival Alumni ins neu konzipierte, auf zehn Tage zusammengedampfte Festival retten.

„Auf Distanz“ für Bassflöte und kleines Ensemble hat die Schweizer Komponistin Barblina Meierhans während des Corona-Lockdowns geschrieben. „Was mir live zum Experimentieren zu Verfügung steht, bin ich, an Klangmaterial ist es meine Stimme“, schreibt sie zum Entstehungsprozess im digitalen Programmheft. Deshalb heißen die kurzen Sätze „Schnalzen“, „Kichern“, „Lauschen und Singen“ und „Atmen“. Aus dem Rauschen und Klappern der im Parkett des KKL Luzern postierten Bassflöte (Matteo Cesari) entwickelt sich ein transparentes Stimmengeflecht, das bis auf wenige Ausbrüche verhalten bleibt und vom Instrumentalensemble unter der Leitung von Baldur Brönnimann mit feinen Nuancen versehen wird.

Oscar Bianchis „Contingency“ (2017) ist mit seiner rhythmischen Vitalität, seiner Sinnlichkeit und den raffinierten Klangmischungen im Bassregister ein echtes Hörabenteuer. Nur das ursprünglich für das Freiburger ensemble recherche komponierte „materia oscura“ (2006) von Nadir Vassena plätschert ein wenig wimmernd und wispernd vor sich hin. Den Solosaxofonpart spielt Valentin Michaud, die dieses Jahr mit dem renommierten Credit Suisse Young Artist Award ausgezeichnet wurde. In ihrem eigenen Rezital (Klavier: Akvile Sileikaite) brilliert die junge Französin mit kristalliner Höhe und leichtgängiger Virtuosität wie in Edison Denisows Sonate für Altsaxofon und Klavier oder in der für Sopransaxofon bearbeiteten Flötensonate von Sergej Prokofiew.

Bei diesem Konzert sind viele Lücken im Publikum zu sehen. Insgesamt lag die Auslastung während des Festivals im auf die Obergrenze von 1000 Zuschauern beschränkten KKL Luzern bei 87 Prozent, womit Intendant Michael Haefliger sehr zufrieden ist. „Wir haben gezeigt, dass wir unter Berücksichtigung der Sicherheitsmaßnahmen Konzerte durchführen können. Daraus kann man Mut und Zuversicht für die Zukunft schöpfen“, sagt Haefliger. Die finanzielle Bilanz steht noch aus, aber die Coronakrise hat das Festival hart getroffen. Man hofft nun auf eine Finanzspritze vom Kanton. Und auf bessere Zeiten im nächsten Jahr. „Es war unser Ziel, zurück auf die Bühne zu kommen“, sagt Haefliger. Neben der Maskenpflicht für das Publikum im Konzert und den reduzierten Zuschauerzahlen hatte das Hygienekonzept des Lucerne Festivals auch die Auflage, die Konzerte ohne Pause zu veranstalten, was Igor Levit bei seinem intensiven Beethovenabend mit vier Klaviersonaten vor eine enorme Herausforderung stellt.

Fast scheint es, als hätte der Pianist, der den Coronashutdown durch Twitterkonzerte aus seinem Wohnzimmer überbrückte, durch die Bühnenpause noch an Intensität und Charakterisierungskraft zugelegt. Nicht wie ein Perpetuum Mobile lässt er das Finale der „Sturm-Sonate“ op. 31 Nr. 2 dahinrollen, sondern gestaltet es als Agitato, das er immer neu belebt. Das Allegro con brio der Sonate in B-Dur op. 22 erhält durch das schnelle Tempo, die massiven Bässe und das Super-Staccato etwas Wildes, Irres. Das Adagio aus der Sonate in C-Dur op. 2 Nr. 3 ist ein entrückter Legatotraum. Nur der Kopfsatz der Grande Sonate Pathétique op. 13 wird von ihm im schnellen Teil zu forciert und verliert dadurch an Durchhörbarkeit. Die verschiedenen Welten zwischen Abgrund und Sehnsucht, die Levit in der langsamen Einleitung in der linken und rechten Hand entstehen lässt, berühren tief.

Es gibt beim Lucerne Festival nicht nur die große, heilige Kunst zu erleben, sondern mit Cecilia Bartoli und ihrem Opernabend „What Passion Cannot Music Raise“ auch Leichtigkeit, Witz und Show. Mit ihrem auf historischen Instrumenten spielenden Orchester Les Musiciens du Prince-Monaco (Leitung: Gianluca Capuano) schafft die italienische Mezzosopranistin größere musikalische Szenen. In „Desterò dall‘ empia“ aus Händels Oper „Amadigi di Gaula“ liefert sich Bartoli einen Trillerwettbewerb mit Trompete (Thibaud Robinne) und Oboe (Pierluigi Fabretti), den sie klar für sich entscheiden kann. Bei „Augelletti, che cantate“ aus „Rinaldo“ hat die Sängerin einen Vogel an der Angel und zwitschert mit der Piccoloflöte (Jean-Marc Goujon) um die Wette. Statt Handshakes gibt es Ellenbogenchecks, die ausgiebig zelebriert werden. Cecilia Bartoli flirtet wie gewohnt mit dem Publikum. „Life is live“ – das Motto des Lucerne Festivals wird Wirklichkeit. Im vierteiligen Zugabenblock kulminiert die Vitalität. Zu Händels „Dopo notte“ steckt sich die Sängerin mitten in den Koloraturen während einer kurzen Atempause einen Zigarillo an und pustet ein paar Ringe in die Luft. In Agostino Steffanis „A facile vittoria“ schlägt sie den tapferen Trompeter im Koloratur-Battle und kontert auch dessen Jazzeinlage mit einer ganz leisen Version von „Summertime“. Natürlich ist das ein bisschen Zirkus, aber auch feiner, musikalischer Humor. Musik muss nicht immer die menschliche Seele tief berühren, sondern kann auch einfach unterhalten und gute Laune verbreiten. Man erahnt jedenfalls viele glückliche Gesichter unter den Masken und hört bei den Standing Ovations etliche Bravorufe, die nur etwas gedämpfter klingen also sonst.


  • Das Lucerne Festival hat die Kosten für den Hotelaufenthalt des Autors übernommen.

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