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WOLFSSCHLUCHT von Malte Giesen, Regie: Paul-Georg Dittrich. Uraufführung am 14.9.2019 in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin. Foto: Marcus Lieberenz
WOLFSSCHLUCHT von Malte Giesen, Regie: Paul-Georg Dittrich. Uraufführung am 14.9.2019 in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin. Foto: Marcus Lieberenz
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Latex-Opfer – Malte Giesens „Wolfsschlucht“ an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt

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Im Rahmen ihrer „Überschreibungen“ von Händel bis Korngold hat die Deutsche Oper Berlin ein Musiktheater von Malte Giesen nach Motiven von Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ in Auftrag gegeben: die „Wolfsschlucht“, in Malte Giesens Partitur zum alleinigen Topos der Opernhandlung gemacht, kam in der musiktheatralischen Werkstatt, der ehemaligen Tischlerei dieses Hauses, zur Uraufführung. Peter P. Pachl besuchte die zweite Aufführung.

Carl Maria von Webers „Freischütz“ war wohl die letzte Oper, bei der noch keine Schere zwischen U- und E-Musik klaffte. Was von dieser Partitur – im Gegensatz zum verbrauchten Jungfernkranz- und missbrauchten Jägerchor sowie abgestanden wirkender Biederkeit der Agathe – bis heute unverbraucht geblieben ist, das sind die innovativen Momente des Schreckens, insbesondere im Topos der Wolfsschlucht. Und in welcher Vielfalt haben heutige Regisseure bereits jene Szenerie des Grauens in der Musik, das eigenartige Mixtum von Melodram und Sologesang, Hui-Geisterchor und orchestraler Aufmüpfigkeit, bebildert. Auch die Berliner Opernhäuser haben in den vergangenen Jahren, insbesondere durch optische Hinterfragungen dieser Szene am Ende des zweiten Aktes, innovativ dazu beigetragen, dass die auf dem Gespensterbuch von Theodor Apel basierende Oper eine spannende Musiktheater-Spielvorlage geblieben ist.

Wie im Originallibretto von Friedrich Kind, so lassen auch Komponist Malte Giesen und Regisseur Paul-Georg Dittrich in ihrer „Wolfsschlucht“ die Hauptpersonen Max, Agathe und Kaspar aufeinandertreffen und verzichten – wie häufig Inszenierungen von Webers Oper – auf die Gestalt des schwarzen Jägers Samiel.

Im unbestuhlten Raum der Tischlerei, zwischen zwei zentralen TVs auf dem Boden, zunächst einem, dann zwei vertikal gestellten Projektionsscreens, einer herabhängenden toten Birke und neben herabstürzendem Baby-Spielzeug in Plastikverpackungen, soll der Zuschauer hin und her wandern und auf diese Weise selbst Teil des Geschehens werden.

Die Videoschleife eines frontalen Autoaufpralls und die Babypuppen, unter denen Max in einer Szene begraben wird, suggerieren eine bislang unbekannte Vorgeschichte, auch eine Beziehung zwischen Kaspar und Agathe, und so wird die Handlung so zu einer Dreiecksgeschichte. Agathe (Susanna Fairbairn) hat auch Ännchens „Kommt ein schlanker Bursch gegangen“ zu singen und Kaspar (Florian Spiess) einmal auch die Worte des Oberförsters Kuno.

Als Erzählstruktur versucht Regisseur Dittrich – gemeinsam mit seinen Ausstattern Pia Dederichs und Lena Schmid sowie Vincent Stefan als Videokünstler und Lars Gebhardt als Dramaturgen – die Handlung anhand der als Zwischentitel projizierten sieben Todsünden zu strukturieren. Dies gelingt jedoch nur leidlich – mit ergänzend herangezogenen „Parteiprogramme[n], Internetkommentare[n]“ (Giesen/Dittrich), als den von den männlichen Solisten und Mitgliedern des Kinderchores vorgetragenen rechten Positionen zur Einwanderungspolitik und zum Klimawandel sowie einem zwar angekündigtem Bereich „Pornographisches“ (Giesen/Dittrich), was für die Schwarzen Messen einiger Wolfsschlucht-Interpretationen  in „Freischütz“-Inszenierungen zutrifft, aber nicht für diesen Werkstatt-Abend.

Zwei Bogenschützen bedienen das im 18. und 19. Jahrhundert überaus populäre Vogelschießen, indem sie ihre Pfeilen auf eine hölzerne Adler-Scheibe schwirren lassen. Im Video bewegt sich ein gesichtslos Maskierter in einer romantischen Forsthaus-Dekoration. Zur Todsünde „Völlerei“ wird ein Bühnenwagen hereingefahren, auf dem die drei Solist*innen, in Metallic-Manier skandierend, sich pantomimisch besaufen und Agathe auf Max (Andrew Dickinson) schießt.

Am wenigsten überzeugend gerät dann die eigentliche Wolfsschlucht-Szene als Finale. Hatte zuvor, bei der Todsünde „Hochmut“, Kaspar zu den Klängen des Deutschlandliedes aus einer verstimmten Spieluhr anstelle des Gies(s)ens von Freikugeln unter dem blutig und blutiger werdenden Hemd des Rivalen Max Patronen hervorgezogen, so wird in der als Todsünde „Habgier“ deklarierten finalen "Wolfsschlucht"-Szene die wider Willen als eine fünfte rote Braut eingekleidete Marie in einem schwarzen Latex-Anzug in die Luft gezogen.

Anschließend wollte der Applaus nicht so recht einsetzen – nicht etwa aus Ergriffenheit, sondern weil die Besucher der zweiten Aufführung offenbar immer noch auf einen Schluss- und zugleich echten Höhepunkt des 70-minütigen Abends warteten.

Die drei Solistinnen singen mit Mikroport, der Bassbariton benutzt obendrein ein Megaphon zu Einspielungen eines mehrkanaligen Lautsprechersystems. Szenisch und auch musikalisch durchaus überzeugend agiert der (von Christian Lindhorst einstudierte) Kinderchor der Deutschen Oper Berlin in weißen Gewändern und mit derartigen Baum- und Geweih-Kopfbedeckungen, wie unlängst in der Staatsopernproduktion von Humperdinck/Mitterers „Schneewittchen“.

Blut verschüttend und Gewehrgesten mimend, singen die Mädchen und Jungen einstimmig die Chöre der Jäger, Bauern und Brautjungfern und sorgen mit Stoffbahnabgrenzungen für das ungefährdete Umherwandern des Publikums zu den Miniszenen an den unterschiedlichen Stellen des rechteckigen Raumes.

Giesen kommt mit minimalem instrumentalen Live-Aufwand aus: einem zwischen Klavier und Keyboard wechselnden Pianisten (So-Hee Kim), einem auf Lautstärke bedachten Schlagzeuger (Ralf Gröling) und zwei Hornisten (Daniel Adam, David Brox), die auch die Autohupen eines mit Schwarz-Weiß- Filmen der Sechzigerjahre bebilderten Straßenverkehrs signalisieren.

Angesichts der diversen in der Tischlerei erlebten „Überschreibungen" wirkt Giesens Partitur, in der fast alle berühmten Nummern der Oper aufscheinen, bemüht und so, als sei sie selbst bereits „in die Jahre gekommen“: die Augmentation der Melodiestruktur wie auch die dem Original hinzugefügte elektronische Ebene fördern keine neuen Aspekte der Weber’schen Partitur zutage. Wenn etwa der Satz des Tenors „Mich verließ das Glück!“ durch ein Chatter-„oi-oi-oio… “ erweitert wird, so verweist dies keineswegs auf jene „Oi-oi-oi-popoi“-Chöre bei Aischylos, die Oscar Straus in seiner Travestieoperette „Hugdietrichs Brautfahrt“ so köstlich persifliert hat.

Mit musikalisch akkurater und engagierter Interpretation bemüht sich Tilman Wildt, die Textur der neuen Partitur zum Disco-Raumklang zu erweitern.

Sollte eine „Überschreibung“ nicht wenigstens Lust darauf machen, das Original neu zu hören? Dies jedoch vermag die „Wolfsschlucht“ nicht.

Gleichwohl geizte das Publikum nach gefühlten 120 Minuten gegenüber allen Beteiligten nicht Applaus, verdient insbesondere für den Kinderchor.

  • Weitere Aufführungen: 18., 20., 21., 22., 24.9. 2019.

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