Im Vorjahr hatte ein wissenschaftliches Symposion in Salzburg die Frage der Figur des Todes auf der Bühne untersucht und war zu dem verblüffenden Ergebnis gekommen, dass die Zahl des personifizierten Darstellungen auf der Opernbühne überschaubar gering ist. Nun hat Hans Neuenfels dieser Reihe eine weitere Verkörperung hinzugefügt. In der zu Recht bejubelten Neuinszenierung von Aribert Reimanns „Lear“ an der Komischen Oper Berlin macht der Regisseur aus der Sprechrolle des Narren den Tod, oder besser: die noch seltenere Verkörperung einer Tödin, denn dargestellt wird sie von Neuenfels’ Ehefrau Elisabeth Trissnenaar. Und in Konsequenz der Bildfindungen verwundert es Insider kaum, dass König Lear ein bekanntes Arbeitskostüm des Regisseurs trägt.
Elisabeth Trissenaar, die nicht nur in der heftig umkämpften Neuenfels-Inszenierung der „Fledermaus“ bei den Salzburger Festspielen ein Lyrik verkündender Frosch war und in dessen ebenso umstrittener, stark phallisch bestimmter „Zauberflöte“ an der Komischen Oper Berlin als eine Art Spielleiterin fungierte, ist im „Lear“ als sprechsingender Narr der ständige, treue Begleiter des alternden Königs; und bereits am Ende des ersten Teils outet sie sich als Tod im Knochengewand.
Dietrich Fischer-Dieskau, dem der Komponist die Anregung zu seiner Oper verdankt, sang in der triumphal erfolgreichen Uraufführung, 1978 am Münchner Nationaltheater, die Titelpartie. Fünf Jahre später erlebte das Werk an der Komischen Oper Berlin seine DDR-Erstaufführung, in einer stark den brodelnden Untergrund einer maroden Gesellschaft betonenden Inszenierung von Harry Kupfer, wobei die offizielle DDR darin eine Anklage an das westliche System sah, mancher Besucher in Ost-Berlin aber auch die Unterdrückung des Gärens im Untergrund des eigenen Landes.
Die Nachfolge-Inszenierung am selben Haus war mithin kein leichtes Unterfangen, das der Regisseur in einem klassisch neutralen Bühnenraum von Hansjörg Hartung durch Fokussierung auf das Altern und den Tod der Hauptperson gelöst hat. Und die hatte der Komponist bereits anlässlich der DDR-Erstaufführung als „Gleichnis unserer Zeit“ bezeichnet und ergänzend konstatiert: „Lear kann für jeden stehen“.
Natürlich wird der Besucher auch in dieser, die Handlung zum Teil simultan führenden, Shakespeare-Adaption (Libretto: Claus H. Henneberg) mit sattsam bekannten ‚Neuenfelsismen’ konfrontiert: bissigen Jungmann-Hunden, einem – im Gegensatz zum alternden Helden – betont jugendlichen Bewegungschor und einer Cordelia, die den männlichen Hosenanzug auf offener Bühne ablegt und für den Vater in die Rolle der weißen Braut schlüpft. (Für die primär heutigen Kostüme zeichnet Elina Schnizler verantwortlich.)
Aber als Graf von Gloster auf drastische Weise die Augen mit viel Blutvergießen aus dem Kopf gerissen und von den Hunden verspeist werden, hat bereits jener Teil des Publikums, der sich von der immer noch ungebrochen kraftvollen Radikalität der Musik verstört zeigte, das Theater verlassen. Und jene, die geblieben sind, erweisen sich als eine einhellig positiv bejahende Gemeinschaft, gipfelnd in Standing Ovations für den 1936 in Berlin geborenen Komponisten – und auch für die Inszenierung.
Musikalisch ist die Produktion allerdings auch höchsten Lobes wert:
Das um ein großes Schlagwerk erweitere, spätromantische Orchester klingt prachtvoll, gipfelnd im Aufbau eines sieben Oktaven umfassenden Vierteltonclusters in der Sturmszene. Dirigent Carl St. Clair sorgt für Dauerspannung und vermag mit den leisen Tönen am Ende echte Rührung auszulösen. Bis in die kleinsten Partien hinein, inklusive dem backstage singenden Herrenchor (Einstudierung: Robert Heimann), gibt es keinerlei Schwachpunkte in der Besetzung. Nahe gehen der Counter Martin Wölfel als Edgar (und verkleideter Tom) und der Bassbariton Jens Larsen als Graf von Gloster, wie auch John Daszak als dessen Bastard Edmund.
Mit hochdramatischer Strahlkraft und – bei der gebotenen, schrillen Überreiztheit – doch angenehmen Timbres warten die bösen Schwestern Goneril und Regan von Irmgard Vilsmaier und Erika Roos auf, und die körperlich und stimmlich schlankere Caroline Melzer ist eine betörende Cordelia. Treffliche Charakterbilder liefern Hans Gröning als Herzog von Albony, Christoph Späth als Herzog von Cornwall und Thomas Ebenstein als Graf von Kent. Die Meisterleistung aber schafft der junge isländische Heldenbariton Tómas Tómasson als Alter Ego des Regisseurs in der Titelpartie. Aufgrund seiner intensiven Verkörperung, mit Schmelz und brillanter Diktion, lässt er einen künftigen Wotan ahnen, auf den man sich schon heute freuen darf!
Trotz der beachtlichen Textverständlichkeit aller Solisten sollten die erst für diese Spielzeit eingebauten Titelanlagen in den Rücklehnen der Sitze dringend repariert werden. Berlins kleinstes, aber derzeit bestes Opernhaus ist es wert!
Weitere Aufführungen:
27. November, 5., 18., 27. Dezember, 17. Januar, 14. Juli.