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Liebhabertheater Schloss Kochberg. Der gefangene Amor oder Die Liebe in Fesseln (Amor prigioniero). Foto: Maik Schuck / Weimar
Liebhabertheater Schloss Kochberg. Der gefangene Amor oder Die Liebe in Fesseln (Amor prigioniero). Foto: Maik Schuck / Weimar
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Leise, deutlich, intim: Giuseppe Scarlattis Kantate „Amore prigioniero“ im Liebhabertheater Kochberg

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Es gibt Orte, die ihre Aura nur bei physischer Anwesenheit offenbaren. Zu diesen gehören der Landschaftspark und das Liebhabertheater Schloss Kochberg. Um in die flächenmäßig ausgedehnte Gemeinde Uhlstädt-Kirchhasel zwischen Weimar, Jena und Rudolstadt zu kommen, braucht man ein Auto, gutes Schuhwerk oder ein leistungsstarkes Fahrrad – vor allem also Zeit. Für den Themensommer 2021 „Arkadien!“ der Klassik Stiftung Weimar stehen Joseph Haydns Oper „Der Apotheker“ (die erste internationale Koproduktion des Theaters), Goethes Lustspiel „Die Mitschuldigen“ und vor allem Giuseppe Scarlattis Kantate „Der gefangene Amor oder Amor in Fesseln“ auf dem Spielplan.

Musiktheater in historischer Aufführungspraxis ist in dem um 1800 eingeweihten Liebhabertheater, das Carl von Stein in den Gartenpavillon seines kleinen Musenhofs einbauen ließ, mit großer Authentizität möglich. Dabei achtet die künstlerische Leiterin Silke Gablenz-Kolakovic bei Tanz, Musik, Sprache und den hier stattfindenden Workshops immer genau darauf, dass Aufführungen der goethezeitlichen Ästhetik so nahe kommen wie nur möglich.

Anwesenden entgeht auf den maximal 75 Plätzen im Mittelraum des Theatergebäudes nichts. Durch die visuelle und akustische Intimität wird jede Veranstaltung zum Dialog von Blicken zwischen Ausführenden und Publikum. Um wie viel anders die Theaterwelten des späten 18. Jahrhunderts waren als die heute meist verdunkelten Säle und performativen Multifunktionsräume, erfährt man im Liebhabertheater Schloss Kochberg. Hier kommt man den Gegebenheiten der Goethezeit weitaus näher als zum Beispiel die weltweit gesuchte Expertin Sigrid T‘Hooft, wenn sie an großen Opernhäusern barocke Theaterpraxis imitiert und Altes mit heutigen Mitteln rekonstruieren muss. Im Theater Kochberg arbeiten der epochenkundige Regisseur Nils Niemann und der musikalische Leiter Gerd Amelung mit dem Ensemble I Porporini nicht nach Regiekonzept, sondern mit vor dem eigentlichen Probenprozess entwickelten Spiel- und Ausdrucksformen.

In diesem Theaterraum dringen Tages- oder Nachtlicht von den mit leichten Vorhängen bedeckten Fenster hinter dem Bühnenraum bis in den Zuschauersaal. Musiker*innen spielen auf der hohen Galerie. Die Holzausstattung rundet, veredelt und stärkt jeden Ton. Sie begünstigt die Diktion, die Wahrnehmung des Publikums und die Feinheit der Gestaltung. Deshalb lernt man im Theater Kochberg, was man aus der Theorie weiß und nur äußerst selten erlebt: Das goethezeitliche Ideal der künstlerischen Natürlichkeit und wie diese unter den richtigen Bedingungen zur theatralen Wirklichkeit werden kann.

Das geschieht für das rhetorische Duell zwischen dem Liebesgott und der dessen Attacken fürchtenden Jagdgöttin in der Kantate „Amor prigioniero“ von Giuseppe Scarlatti (1718-1777) auch in jenem Bewusstsein für aufführungspraktische Freiheiten, mit denen Goethe als Intendant des Weimarer Hoftheaterensembles Eingriffe in Originaltexte von Opern und Schauspielen zuließ. Für die in der SLUB Dresden überlieferte Partitur fertigte Babette Hesse eine Übersetzung von Pietro Metastasios vielfach vertontem Libretto an. Gerrit Berenike Heiter und Danila Linzke erhalten als stumme Nymphen Irene und Silvia vergleichbar wichtige szenische Bedeutung wie die beiden Sängerinnen Anne Martha Schuitemaker (Diana) und Frieda Jolande Barck (Amor). Sie reagieren auf jeden dialogischen Stich der vorgeblich keuschen Diana und des manipulativen Quertreibers mit den kecken Augen.

Der Beitrag zum Themensommer „Arkadien!“ der Klassik Stiftung Weimar ereignet sich in dekorativer Anlehnung an Gemälde von Füssli und Angelika Kauffmann. Sollte Tamiko Yamashita-Gegusch für die weiße Kurztoga Amors und das Kleid Dianas synthetische Materialien verwendet haben, wird das im beeindruckenden Ganzen unwesentlich. Ein verwegener oder klagender Blick sagt so viel wie eine halbe Arie.

In diesem Rahmen versteht man, warum eine Spezialisierung auf Stimmfächer und -lagen im 18. Jahrhundert noch nicht in dem Maße nötig war wie später. Das geringe Raumvolumen, die relativ hohe Decke und das kräftig wie sensibel spielende Ensemble I Porporini ermöglichen unforciertes Agieren bis in exponierte Lagen und Textverständlichkeit ohne zu harte Konsonanten. Das kommt den Differenzierungen bis in Mikro-Schattierungen und der Schönheit des Singens von Martha Schuitemaker und Frieda Jolande Barck optimal zugute. Gerd Amelung versteht im Umgang mit sängerischen Individualitäten Stilistik nicht als Druckmittel und Selbstzweck für das performative Silbertablett, sondern als unerlässliche Essenz. Die mit Georg Christoph Wagenseils Sinfonia D-Dur WV 367 zum pantomimischen Prolog auf eine Stunde kommende Aufführung wirkt weder gespreizt noch gekünstelt.

„Amore prigioniero“ passt ausgezeichnet in das Ambiente. Giuseppe Scarlatti, dessen Verwandtschaft mit den ihm vorausgegangenen Komponisten gleichen Namens umstritten ist, vertonte sogar die Rezitativ-Teile mit melodischen Formen. Hier hört man genau, welche zeittypische Muster der junge Mozart in seinem Frühwerk adaptierte. Alle Mitwirkenden zeigen die optimale Verhältnismäßigkeit von Intensität, Einlassen auf die phänomenalen Raumbedingungen und musikalische Detailliebe. Erleben kann man das nur vor Ort. Denn das Liebhabertheater Schloss Kochberg verhält sich in digitalen Foren und Medienformaten wie eine schöne Verschleierte, die vor der breiten Masse nie ihr ganzes Gesicht enthüllt.

  • Der gefangene Amor oder Die Liebe in Fesseln (Amor prigioniero) Arkadische Miniaturoper von Giuseppe Scarlatti (1718–1777), Libretto von Pietro Metastasio – deutsche Übersetzung: Babette Hesse – Aufführung entsprechend der historischen Aufführungspraxis des späten 18. Jahrhunderts, Ouvertüre: Sinfonia D-Dur WV 367, Vivace – Andante von Georg Christoph Wagenseil (1715–1777) – Diana: Anne Martha Schuitemaker, Sopran – Amor: Frieda Jolande Barck, Sopran – Nymphe Irene: Gerrit Berenike Heiter, Pantomime und Tanz – Nymphe Silvia Danila Linzke, Pantomime und Tanz – Ensemble I Porporini – Musikalische Leitung: Gerd Amelung – Regie: Nils Niemann – Kostüme: Tamiko Yamashita-Gegusch – Bühnenmalerei: Rica Mende – Produktion: Silke Gablenz-Kolakovic, Gerd Amelung – Eine Koproduktion des Liebhabertheaters Schloss Kochberg mit dem Ensemble I Porporini

 

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