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Szene aus dem 2. Aufzug. Foto: Nasser Hashemi
Szene aus dem 2. Aufzug. Foto: Nasser Hashemi
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Lieber konsumieren als denken! – Boitos Faust-Oper „Mefistofele“ in Chemnitz

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Balázs Kovalik wiederholt an der Oper Chemnitz seine Budapester Inszenierung von Arrigo Boitos anspruchsvoller und herausfordernder Faust-Oper „Mefistofele“. Damit ergänzt das Opernhaus seine Produktion von Faccios „Amleto“ um ein weiteres wichtiges Werk aus dem Umfeld Verdis. Zu aggressiven Ausschreitungen kommt es in dieser Inszenierung nicht. Zentrale Themen von Kovaliks Inszenierung sind die Abstumpfung der Massen durch Konsum und deren Gleichgültigkeit bei ethischen und ästhetischen Fragestellungen. Riesiger Erfolg für ein technisch aufwändiges und dabei skeptisches Zivilisationspanorama, findet Roland H. Dippel.

Die Frau, die einst Gretchen und Helena war, streckt Faust am Ende die Bibel entgegen. Er will aber nach seiner bizarren Abenteuerkette zurück auf seinen einsamen Bücherhügel. Ganz klein und schutzlos wirkt diese Rückzugnische vor dem riesigen Stahlgerüst. Wenn am Ende metaphysische Kräfte in das Leben der Angepassten und Gleichgültigen dringen, ist der Dualismus von Himmel und Hölle überwunden. Aber für die Menschheit beginnen keineswegs bessere Zeiten, selbst wenn der verneinende Geist Mefistofele am Ende vor den Kindern flieht. Balázs Kovalik spiegelt Goethe an Texten des ungarischen Ästhetikers und Kulturtheoretikers Béla Hamvas: Man sieht Risse im sinnfreien Lustgewinn und im passiv aus der Vergangenheit übernommenen Weltbild.

„Mefistofele“ erlangt seit einigen Jahren endlich auch in Deutschland die Bedeutung, die der Oper mit dem vom Komponisten Arrigo Boito selbst eingerichteten Libretto nach beiden Teilen von Goethes „Faust“-Tragödie zukommt. Spannende Ergänzung: Mit Franco Faccios „Amleto“ und dem Remake von Balázs Kovaliks Budapester „Mefistofele“-Inszenierung kann man in Chemnitz zwei wichtige Opern erleben, die viele Elemente von Verdis Spätstil vorwegnehmen. Die Premiere wird zum lautstarken Erfolg mit profunder Überwältigung des Publikums durch eine außerordentliche musikalische Leistung und eine dekorativ blendende Inszenierung.

Selten klang eine Sinnkrise packender, schöner, hypnotischer

Trotz der beeindruckenden fünf Solisten (in den Nebenrollen Sophia Maeno und Siyabonga Maqungo) stehen der Opernchor, viele Chorgäste, der Extrachor und Kinderchor der Oper Chemnitz nach intensiver Vorbereitung durch Stefan Bilz und Dovile Šiupēnytē im Mittelpunkt. Selten klang eine Sinnkrise packender, schöner, hypnotischer. „Mefistofele“ ist in Chemnitz das pessimistische Drama über mit Lust und Billigwaren beschwichtigte Massen, denen die intellektuelle und spirituelle Grübeleien hinter den weißen Wänden ihrer Eigenheim-Attrappen und der überschaubaren Szenarien ihrer Spiel- und Anmachschuppen egal ist. Csaba Antal zeigt das mit im bunten Licht John Gilmores umso kälter wirkenden Materialien. Mari Benedek haut mit ihren vorsätzlich banalen Alltagskostümen noch eins drauf, wenn die Massen erst ihre Einkäufe und schließlich sich selbst in Plastik hüllen. Dieses billige Gesellschaftspanorama wird nur beim Tod der sich in einer Blutlache wälzenden Margherita essenziell. Leo Mujić verteilt in den Massen das Ballett mit standardisierten und oft maschinellen Bewegungen.

Dann springt Arrigo Boitos in der für Bologna 1875 von fünf auf zweieinhalb Stunden gekürzten Endfassung mit einer knappen Anordnung möglichst vieler Szenen aus Goethes Tragödie doch auf die persönliche Entwicklung Fausts. Kovalik lässt dessen Suche nach dem Ideal von Kunst und Weiblichkeit in einem Labor enden, in dem man am optimierten Menschen der Zukunft bastelt und schöne Wesen in Kugelballons durch den Raum schweben. Auch hier ist den Massen Fausts Sucht nach Vollkommenheit schnuppe.

Schales Technikdesign dominiert auf der Bühne, wenn sich im Prolog die Engel aus dem Nebel herausbewegen. Die Robert-Schumann-Philharmonie setzt schon mit den ersten monumentalen Akkorden die qualitative Messlatte sehr hoch: Ihr gelingt unter GMD Guillermo García Calvo die hymnischen und burlesken Blöcke der Walpurgisnacht ebenso bezwingend wie die vielen kammermusikalischen Stellen, Boitos Experimente mit prä-impressionistischen Mitteln und seine Weiterentwicklung von Bellinis Melos. Man hört, dass Boito den Dualismus zwischen dem Herrn und dem Versucher immer wieder in Frage stellt und sieht dazu Kälte in gleißenden Farben. Kinder haben in diesem Panorama nur noch am Rand Platz.

Bis zum musikalischen Stillstand gemeißelte Deklamation

Je schaler die Kollektive agieren, desto unnötiger wird der Teufel. Eigentlich braucht Kovaliks dargestellte Welt nicht mehr jenen Mefistofele, der in tiefem Rot, mit perfekten Pfiffen und einem imponierenden Tiefenregister gegen Gottes Vollkommenheit opponiert. Magnus Piontek ist auch ein Fremdkörper, weil er den Part, darin René Pape in München ähnelnd, mit klarer Diktion, aber sehr sparsam dosierter mediterraner Gesangsfülle angeht. Faust muss sich vor seinem Aufbruch in die Fun- und Freizeitnischen nicht erst verjüngen, bleibt bei seinen Erkundungen des echten Lebens blässlich. Sogar bei Margheritas grausam einsamen Sterben begibt er sich nur zögernd aus der Reserve des Beobachters. Dabei hat Cosmin Ifrim für diese Tenorpartie, eine der schönsten des italienischen Repertoires, viel Schmelz in mindestens vier großen Ariosi und Kavatinen. Die aufregendsten Auftritte liefert Katerina Hebelkova, die nach vielen Mezzo-Rollen mit riesigem Erfolg die Sopran-Doppelpartie von Margherita und Elena riskiert. In ihrem Gesang vereinen sich große italienische Oper und die intensivste szenische Leistung des Abends. Denn sie ist es vor allem, die Guillermo García Calvos packend detailreiches Dirigat mit einer bis zum musikalischen Stillstand gemeißelten Deklamation auf der Bühne nutzt und verdichtet. Sie macht auch vergessen, dass Kovalik für die Darstellung des schönen Ideals Elena wenig eingefallen ist. In dieser Inszenierung wird Boitos Faust zum Phlegmatiker, der die Welt zwar erkunden will, sich mit traumhaft schönen Tönen aber aus deren Reibungen heraushält. Doch wohliges Genießen wird durch den ständigen Wechsel von Freude über eine rasante Opernshow und innerem Widerwillen geblockt. Paradoxe Wirkungsakzente also auf der Höhe von Boitos anspruchsvoller Goethe-Interpretation.


  • Termine: Sa 28.09.2019, 19:00 (Premiere = besuchte Vorstellung) – Sa 05.10., 19:00 Uhr – So 27.10.,  17:00 - Sa 16.11., 19:00 – Fr 20.12., 19:00 – So 19.01.2020, 17:00 – Sa 29.02., 19:00 – So 22.03., 17:00 – So 19.04., 17:00

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