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Mojca Erdmann (Marquise de Merteuil). Foto: Monika Rittershaus
Mojca Erdmann (Marquise de Merteuil). Foto: Monika Rittershaus
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Luca Francesconis „Quartett“ als Saison-Eröffnungspremiere an der Berliner Staatsoper

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Heiner Müller, der wohl wichtigste deutsche Dramatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der auch als Regisseur für Schauspiel und Musiktheater („Tristan und Isolde“ in Bayreuth) Marksteine gesetzt hat, ist mit seinem wohl meistgespielten Stück „Quartett“ nach Berlin zurückgekehrt – und diesmal an die Staatsoper, als Erstaufführung der deutschen Fassung der gleichnamigen Oper von Luca Francesconi aus dem Jahre 2011.

Das auf dem Brief-Roman „Gefährliche Liebschaften“ von Choderlos de Laclos basierende Schauspiel hatte Luca Francesconi in seiner eigenen italienischen Übersetzung vertont und an der Mailänder Scala herausgebracht. Der große Erfolg – weltweit 85 Aufführungen in acht verschiedenen Produktionen – basiert wohl auch auf der Tatsache des vergleichsweise geringen Aufwandes für nachspielende Bühnen: alle Aufführungen verwendeten seither das von der IRCAM, dem Chor und Orchester des Teatro alla Scala Milano eingespielte Material, und so nun auch die Staatsoper Unter den Linden.

Dem musikalischen Chef der Linden-Oper kam die Tatsache von nur zwei singenden Personen auf der Bühne und 24 Live-Musikern im Graben hinsichtlich der aktuellen Corona-Beschränkungen offensichtlich sehr entgegen.

Beim Einlass erblicken die Zuschauer*innen der deutschsprachigen Erstaufführung eine löchrige, halb versunkene Erdkugel in Schräglage. Nachdem GMD Daniel Barenboim seinen Konzertmeister schulterklopfend begrüßt und den Auftakt erteilt hat, dreht sich die Kugel nach links und gibt jenen Raum frei, den Heiner Müller und nach ihm auch der Komponist beschreiben als: „Salon vor der Französischen Revolution/Bunker nach dem dritten Weltkrieg“.

In diesem Rundraum begegnen wir anfangs dem schlafenden Vicomte Valmont und der sich manisch ihre blonden Haarsträhnen abschneidenden Marquise de Merteuil. In der Mischung der im Orchestergraben verteilten 24 Instrumentalist*innen (inklusive Klavier und zwei Keyboards) und der eingespielten Vorproduktion klingen auch die Stimmen von Mojca Erdmann und Thomas Oliemans verstärkt, doch vermochte der Rezensent aus dem dritten Rang keine Mikroports zu erspähen.

In der Inszenierung der Debütantin Barbara Wysocka ist das singende Paar ergänzt durch eine Tänzerin (Francesca Ciaffoni) und ein Kind (Ségelène Bresser), stumme Parallelfiguren und Doubles. In einer Entkleidungsszene zieht sich die Tänzerin ungezählte schwarze Slips aus, bis sie schließlich ganz nackt agiert. Doch wenn sie rittlings auf den Beinen des Vicomte sitzt, trägt sie einen Mund-Nasenschutz – wie bisweilen auch die Sopranistin und der Bariton. In einer Szene singen die Beiden ebenfalls mit jenen Gesichtsmasken, die in den Sex-Rollenspielen jenes Ex-Paars, welches sich weiterhin leidenschaftlich verfallen ist, eine weitere Maskierungs-Komponente zwischen Crossdressing und Flagellation bildet.

In Barbara Hanickas Bühnenraum senken sich einmal Bilder einer Foto-Ausstellung von Genitalaufnahmen, das andere Mal große schwarze Vögel – jeweils verdoppelt durch den verspiegelten Boden jenes Bunkerraumes, in dem einige Stühle und Kartons das einzige Interieur bilden.

Aus den Kartons kramen die Protagonisten die Kostümteile für ihr Wechsel-Rollenspiel: Valmont legt sich nackte Plastik-Brüste an, die Markise schnallt sich einen silbernen Phallus um. Weitere Requisiten neben Kleidungsteilen sind eine Hochleistungskamera der Marquise und ein Stock sowie Weinflaschen für den Vicomte. Nicht ganz konsequent in der Abfolge der zwölf Szenen startet zunächst jede neue Szene mit einer kompletten Umdrehung des Globus.

Mit der integrierten Frage „Spielen wir?“ hat bereits der Autor die Doppelbödigkeit dieses Spiels in Frage gestellt, und sein Statement „Tugend ist eine Infektionskrankheit“ erlangte ungeahnte Aktualität. Die Regisseurin begründet ihre Bildfindungen: „Derselbe Krieg und die Aggression gehen weiter, die man überall sonst findet, in dieser Art von Hyper-Turbo-Kapitalismus. Selbst in diesem speziellen Fall von ‚Quartett‘ werden wir Teil eines unangenehmen privaten Kriegs, ein Spiel mit Maskierungen, ein Spiel der Spiegelungen, ein verstecktes Spiel, in dem versucht wird, den anderen zu schlagen.“ Im Programmheft-Interview verweist die Regisseurin jedoch darauf, dass es heute viel mehr Geschlechter gebe als zur Zeit der Entstehung von Müllers Drama und Francesconis Oper.

Luca Francesconi betont, kein Wort an Müllers Dramentext verändert zu haben; nur am Ende hat er „Zeilen der ‚Hamletmaschine‘, wo Ophelia sich gegen die zeitenüberdauernde Gewalt auflehnt und die Werkzeuge ihrer Gefangenschaft zertrümmert“, eingefügt: „Sie nimmt die Uhr aus ihrer Brust, die ihr Herz war, und geht in ihrem eigenen Blut gekleidet nach draußen. Das ist wie ein mysteriöses Ritual, aber ein lebensbejahendes Zeichen: Sie geht hinaus und verlässt die Situation.“ Francesconis eigenwillige Deutung, „dass Merteuil wie Ophelia handelt“, bildet den Epilog der Oper.

Das Müller-Zitat aus der „Hamletmaschine“ wird auf die Rückwand des Bunkers projiziert; aber aus Gründen, die dem Rezensenten unklar blieben, senkt sich mit der vierten Szene eine Leuchtkugel in den Raum, welche den Besucher*innen in den Rängen das Mitlesen des projizierten Epilog-Textes schwierig bis unmöglich macht. Die Gesangstexte, auch die des eingeblendeten Fernchores, sind in deutscher und englischer Sprache über der Szene mitzulesen – ein Vorteil angesichts der eingeschränkten Textverständlichkeit.

Beim Mitlesen des Librettos wird deutlich, dass bei Francesconis Rückverwandlung seiner Komposition in den deutschen Originaltext in den Gesangsstimmen seltsame Wort- und Satzteil-Wiederholungen erforderlich waren, die das Verständnis zusätzlich erschweren.

Gleichwohl ist Müllers Sprache auch als Gesang von starker Wirkung. Die Vertonung nimmt ihr nichts, untermalt aber Vieles. Schließlich geht es in Müllers sprachgewaltiger Adaption des Brief-Romans um zahlreiche Bibel-Zitate (aber auch solche von Bert Brecht), welche von ihm verändert wurden mit der Zielsetzung einer eindeutigen, klaren und deftigen Sexualisierung der Geschlechterbeziehung („Das Paradies hat drei Eingänge. Ja, Raum ist in der kleinsten Hütte.“). Die Rezeption mag heute, mit dem Abstand zur Entstehung des 1982 in Bochum uraufgeführten Dramentextes, noch deutlicher geworden sein. Doch wäre diese Spielvorlage nicht von Heiner Müller, so würde heute vermutlich die „Vernichtung der Nichte“, die ausgeführten Darstellungen der Verführung einer familiär abhängigen Minderjährigen, unter den Paragraph von Kinderpornographie fallen und untersagt werden.

Daniel Barenboim gelingt es, die Mischung der Live-Teile mit dem Gros der Konserve zu einem stimmigen Ganzen zu formen. Dem Hörer bleiben die strukturelle Tiefauslotung der Texte ebenso im Gedächtnis wie unvermutet tonale Streicher-Kantilenen in Zwischenspielen und dramatische Unisoni der tiefen Streicher, die an eine ähnliche Praxis bei Richard Wagner gemahnen.

Das für den Computersound verantwortliche italienische IRCAM-Team wird auf dem Besetzungszettel ebenso genannt wie Chor und Orchester der Mailänder Scala. Schwieriger zuzuordnen ist, welche Musiker*innen denn nun im Graben gespielt haben; vermutlich die – neben sämtlichen Namen der Mitglieder der Staatskapelle –auf dem Besetzungszettel namentlich aufgeführten 24 Mitglieder der „Orchesterakademie bei der Staatskapelle Berlin“. Denn beim Applaus auf der Bühne umgeben den maskierten Maestro exakt 24 Musiker*innen.

Heftiger, uneingeschränkter und langdauernder Applaus der Zuschauer*innen in dem auf 500 Plätze reduzierten beschränkten Auditorium trifft die auf der Bühne beim Applaus maskierten Instrumentallist*innen, Barenboim, die beiden Soli und den anwesenden Komponisten. Der ließ es sich nicht nehmen, seine Hauptdarstellerin zu umarmen und, vor ihm niederkniend, die Hände des Baritons zu ergreifen – wie auch später die Regisseurin sich diesbezüglich keinen Zwang auferlegte.

Während 8-seitige Besetzungszettel verteilt wurde, gibt es – offenbar dem Beispiel der Deutschen Oper Berlin folgend – das 142-seitige Programmbuch zu dieser Produktion nur als digitalen Download, in der Staatsoper allerdings mit freiem Wlan-Zugang.

Hier bleibt der von der Komischen Oper Berlin eingeschlagene Weg des gedruckten Programmhefts zu bevorzugen. Nach dem nunmehr abgeschlossenen Spielzeiteröffnungs-Premierenreigen gebührt allerdings Dietmar Schwarz für seine gleichermaßen hochwertige wie mutige und rasche Produktions-Abfolge der Deutschen Oper Berlin der erste Preis.

  • Weitere Aufführungen: 8., 10. und 18. Oktober 2020.

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