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Oliver! Aaron Fischer (Oliver), Chris Murray (Fagin), Taschendiebe. Foto: Olaf Malzahn
Oliver! Aaron Fischer (Oliver), Chris Murray (Fagin), Taschendiebe. Foto: Olaf Malzahn
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Lübeck zeigt „Oliver!“ – ein Musical zwischen Kindertheater und professionellem Anspruch

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Um das leichtere Genre im Musiktheater zu bedienen, hat sich das Theater Lübeck in dieser Spielzeit Lionel Barts Musical „Oliver!“ vorgenommen, verfasst nach Charles Dickens‘ allbekanntem zeit- und sozialkritischem Roman. 1960 uraufgeführt, wurde es in Londons West-End ungewöhnlich lange gespielt, übertroffen nur von „Jesus Christ Superstar“. Knapp drei Jahre später wiederholte sich der Erfolg am Broadway. Erst 1985 wurde eine deutschsprachige Version in Salzburg vorgestellt, dennoch blieb das Werk in Deutschland nahezu unbekannt.

Probleme

Wer die Lübecker Inszenierung sieht (Premiere 17. November 2017), versteht, warum andere Häuser sich zurückhalten. Immerhin sind nahezu 20 Rollen zu besetzen, zwei davon, und gerade Hauptrollen, kindlichen Darstellern vorbehalten. Sie müssen wie ihre Altersgenossen als Waisen, als Diebesbande oder Straßenkinder wie die Großen sprechen, mimen, singen und tanzen – und das in professioneller Manier. In Lübeck entlieh das Theater die ca. 70 jungen Darsteller der Gesamtschule St. Jürgen und dem Katharineum. Nahe dem Theater gelegen zwar beide, aber dennoch war in den zwei Monaten Vorbereitung viel bei Zeitplänen, Einsatz von Betreuern oder bei Transporten zu leisten. Bei den Kosten halfen ein paar Spender. Geduld und Teamarbeit forderte auch, bei all den fordernden Proben die Kinder und Jugendlichen bei Laune und Konzentration zu halten, auch wenn das Haus erfahren ist, Kinder in das Bühnengeschehen einzubinden, bei Bernsteins „Mass“ beispielsweise, auch jüngst in „Carmina“. Regisseur Wolf Widder gelang das, am unverkrampften Ergebnis gemessen, respektabel.

So darf das Theater mit einem großen Erfolg rechnen. Oliver und Artful Dodger, die beiden jugendlichen Hauptrollen, wurden deshalb für die geplanten 13 Aufführungen dreifach besetzt.

Szenen einer Entwicklung

Die geschickt verkürzte Romanadaptation zeigt Oliver zunächst im Waisenhaus, abhängig wie seine ebenso hungernden Mitinsassen von dessen hartherziger Leiterin und dem eigensüchtigen Gemeindediener. Er wird an einen Leichenbestatter verkauft, verprügelt einen älteren Lehrjungen, um seine Würde zu wahren, wird zurückgeschickt, kann fliehen. In London lernt er den jungen Artful Dodger kennen, der ihm bei dem jüdischen Fargin, Hehler und Kopf einer Diebesgang, Unterkunft und „Schulung“ vermittelt. Nancy und Bet, zwei Damen des leichten Gewerbes und Ehemalige der Bande, klären ihn darüber auf, was er eigentlich macht. Ein misslungener Beutezug führt ihn in das Haus des reichen und alten Brownlow. Hier scheint sich das Blatt für ihn zu wenden. Bis es aber doch zum einigermaßen von Sentiment freien Happy End kommt, muss noch etliches an Geschehen geflochten und entwirrt werden.

Pralle Aktionen

Für ein Musical, das nicht allzu düster sein darf, entstanden kraftvolle Szenen, zeigten die Hungernden fröhlich, die Armen aktiv und um Würde bemüht. Das Leben in der Kleinstadt mit dem Waisenhaus wurde wie das auf den Straßen und in den Kaschemmen Londons mit schrillen Typen prall und drastisch ausgemalt, auch musikalisch, Theater vor allem für Erwachsene. Harald Kratochwil unterstützte die Regie mit gelungenen Choreografien, umwerfend die beim „Um-Pa-Pa“, an denen die Chöre des Theaters und der Kinder sehenswert beteiligt wurden. Mit einer Company von nur sechs ausgebildeten Tänzern war das keine leichte Aufgabe. Daneben sorgte Katja Leibelt mit ihren Kostümen und einem sehr anpassungsfähigen Bühnenbild dafür, dass alles schnell und leicht zu lokalisieren war.   

Ein Gleichgewicht im „kollegialen“ Miteinander zu halten, war dagegen nicht immer einfach, gelang zumeist, denn das, was z. B. den Jugendlichen an Stimmkraft fehlt, kann heute die Tontechnik wunderbar ausgleichen. So war Olivers knabenhafter Sopran, in der Premiere sang Leander Härtel, immer gut zu hören, bei seinem Abendständchen beim Bestatter oder in Ensembles. Bei den Profis ragten Chris Murray und Femke Soetenga heraus. Murray begeistert mit einer ungewöhnlich kräftigen, weit gefächerten Stimme und großer Spiellust, der Wolf Widder manchmal zu viel Platz gab. Dennoch waren seine Soli, besonders das „Überdenke ich meine Lage“ im Klezmer-Stil, Höhepunkte des Abends. Kollegial ließ er neben sich seinem Musterschüler Dodger Raum, den wendig Paul Schiffner gestaltete. Die vitale Femke Soetenga gab mit Kraft und Stimme der Nancy alles, was diese menschlich anrührende Frauengestalt zwischen Zwielicht und Moral benötigt. Eine große Leistung! Einige Solistenrollen waren mit Ensemblemitgliedern besetzt, köstlich komisch Andrea Stadel als Leiterin des Armenhauses und Steffen Kubach als Gemeindediener Bumble. Auch Chormitglieder wie Imke Looft und Mark McConell als Bestatter-Paar hatten plastische Rollen bekommen.

Dass bei der Premiere, vor allem zu Beginn, nicht alles rund lief, ist allzu verständlich. Auch Adrian Pavlov als neuer 2. Kapellmeister hatte die Akustik noch nicht im Griff, leitete die Musiker des philharmonischen Orchesters dennoch mit Schwung. Aus dessen Reihen stach die Geigerin Isabel Jiménez Montes hervor, die auch einen sicheren Bühnenauftritt als Straßenmusikerin absolvierte.

Fazit:

Die Inszenierung nimmt für sich ein, versucht nicht, die Balance zwischen Kindertheater und schmissigem Musical zu halten. Sie will ein erwachsenes Publikum unterhalten. Die jungen Darsteller leisteten dabei Erstaunliches, auch über eine Dauer von mehr als zweieinhalb Stunden.

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