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Maskenspiele: Das neue Berliner Label Testklang präsentiert „Tracking Pierrot“

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Neudeutsch nennt man das ein Konzeptalbum, was das neue Berliner Label „Testklang“ mit seiner zweiten Produktion „Tracking Pierrot“ vorgelegt hat. Arnold Schönbergs atonales Melodram „Pierrot Lunaire“ op. 21, neu aufgenommen vom Ensemble 29,46ºS, 62,7ºO unter Manuel Nawri, wird kombiniert mit Kompositionen von Max Kowalski/Johannes Schöllhorn, Hanns Eisler und Earle Brown, die auf ganz unterschiedliche Weise in Beziehung stehen zu Schönbergs epochemachendem Werk, das bei der Berliner Uraufführung am 16. Oktober 1912 von zahlreichen Störgeräuschen begleitet wurde.

Das genossenschaftlich organisierte Label hat sich zum Ziel gesetzt, Produktionen „von herausragender Qualität“ zu entwickeln, die Musik, Film, Dichtung und Gestaltung miteinander verbinden. Bei „Tracking Pierrot“ ist auf dem Coverbild das gleiche Hasenkostüm zu sehen, das auch im Pierrot-Kurzfilm von Aron Kitzig eine tragende Rolle spielt. Die aufwändige Aufmachung der Produktion enthält neben CD und DVD auch ein ausführliches Booklet, das lesenswerte Interviews mit dem Dirigenten Manuel Nawri und dem Komponisten Johannes Schöllhorn sowie alle Texte der Gedichte (deutsch/englisch) präsentiert.

Die herausragende, künstlerische Qualität der Aufnahme ist schon nach wenigen Takten von Schönbergs „Pierrot Lunaire“ zu hören, wenn die Sopranistin Sarah Maria Sun sich bei „Mondestrunken“, dem ersten Gedicht von Albert Giraud, mit großer rhythmischer Genauigkeit zwischen Singen und Sprechen, Tönen und Lauten bewegt. Die Arpeggien im Klavier (Marc Tritschler) sind zart. Die Flötengirlanden von Kristjana Helgadóttir werden ganz fein gezeichnet. Der Sopranistin gelingen mit dem vorzüglichen Ensemble 29,46ºS, 62,7ºO in den 21 Gedichten feine Tuschezeichnungen, die vor allem durch ihre Genauigkeit und Transparenz überzeugen.

Flöte, Violine (Emmanuelle Bernard) und Klarinette (Miguel Pérez Iñesta) sind zu Beginn von „Eine blasse Wäscherin“ so exakt parallel geführt, dass sie fast nicht mehr als eigene Instrumentalfarben wahrgenommen werden. Bassklarinette und Cello (Arthur Hornig) laden die düstere Passacaglia „Nacht“ mit bedrohlicher Atmosphäre auf. Diesen schwarzen Riesenfaltern, von denen Sarah Maria Sun erzählt, möchte man lieber nicht begegnen. Dirigent Manuel Nawri, Professor an der Hanns-Eisler-Musikhochschule in Berlin, achtet auf jedes rhythmische und klangfarbliche Detail. Nur der Humor, die Leichtigkeit, die sarkastische Übertreibung in den ironischen Liedern „Gemeinheit“ oder „Serenade“ kommen in der Interpretation der Sopranistin Sarah Maria Sun ein wenig zu kurz. Da zeigt Salome Kammer in der Aufnahme mit Hans Zender (Dabringhaus und Grimm) mehr Sinn für die spezielle Komik.

Zur selben Zeit wie Arnold Schönberg vertonte Max Kowalski zum Teil die gleichen Gedichte Albert Girauds – ohne voneinander zu wissen. Und veröffentlichte den Zyklus für Singstimme und Klavier 1913 als op. 4 bei Simrock unter dem Namen „12 Gedichte aus Pierrot Lunaire“. 1992 hat sich Johannes Schöllhorn damit kompositorisch auseinandergesetzt und den Kowalski-Zyklus für die Schönberg-Besetzung bearbeitet. „Ich versuche mit einer Haltung wie ein Pierrot den Kowalski zu attackieren, umzuformen, umzugestalten, um dieses Pierrotgefühl auszudrücken“, erklärt der Komponist im Interview.

Schöllhorn hat sichtlich Freude daran, Kowalskis konventionelle, ganz tonale Komposition mit Bartók-Pizzicati, Sul-Ponticello-Spiel oder extremen Bogengeräuschen zu erschrecken. Dabei forciert er die Theatralik der Musik wie im Gegensatz zu Schönbergs Version ganz ruhig beginnenden „Raub“, wenn nach einer ausgesungenen Gesangs- und Cellomelodie plötzlich das Klavier nervöse Repetitionen spielt und mit dieser Hysterie für einen Moment das ganze Ensemble ansteckt. Die „Nordpolfahrt“ durchs Eis wird mit kratzendem Bogen ganz plastisch. Stilistisch finden sich auch Tangoeinflüsse („Mondfleck“) oder jazzige Akkorde („Heimfahrt“) in Schöllhorns farbiger, virtuoser Bearbeitung, die von den erstklassigen Interpreten bei dieser Erstaufnahme zum Leben erweckt wird.

Auch Hanns Eislers knapper, von Schönbergs „Pierrot lunaire“ inspirierter Zyklus „Palmström“ (Studien über Zwölftonreihen für Sprechstimme und kleines Ensemble) interpretiert das Ensemble unter Manuel Nawri lebendig und geradezu sprechend. Der virtuose Gesang der Sopranistin Sarah Maria Sun nähert sich seinerseits dem Instrumentalen an. Weitere Masken von Pierrot sind in Earle Brownes atmosphärisch dichtem „Tracking Pierrot“ zu erleben (Percussion: Johannes Fischer), das auch den Soundtrack zum rätselhaften Film von Aron Kitzig bildet, der sich mit flackerndem Licht, einer Handkamera und einem „Rabittenensemble“ auf die Spur Pierrots begibt. Eine zweite Fassung des in einer „Open Form“ geschriebenen Stücks steht als Download zur Verfügung. Aber nur für den, der dieses aufwändige, erstklassige Album auch gekauft hat.

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