Hauptbild
Foto: © Natascha Teichfischer
Foto: © Natascha Teichfischer
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Menschheitsdämmerung mit Atompilz und Atemmaske: Siegfried Wagners „Sonnenflammen“ in Bayreuth

Publikationsdatum
Body

Ohne Festspiele bietet die Bayreuther Innenstadt in diesem Sommer ein ungewohnt tiefenentspanntes Bild, bis Max Emanuel Cencic Anfang September im Markgräflichen Opernhaus erstmals das neue Barockfestival eröffnen wird. Die zum Äußersten entschlossene Anhängerschaft Siegfried Wagners leistete erbitterten Widerstand gegen die wegen Corona abgesagten Vorstellungen. Zwar musste auch das pianopianissimo-musiktheater schweren Herzens auf „Rainulf und Adelasia“ verzichten, realisierte allerdings mit tollkühnem Mut das Musikdrama „Sonnenflammen“, Siegfried Wagners Opus 8: Ohne ‚echtes‘ Orchester, dafür mit Video-Orgie rauschte das byzantinische Imperium in seinen farbenfrohen Untergang.

Seit bald fünf Jahrzehnten kämpft die Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft gegen eine ungerechte Rezeptionsflaute. Nach mehreren starken Anfangserfolgen konnten sich die Opern des einzigen Sohns von Richard und Cosima Wagner, des Festspielleiters und Großvaters von Katharina Wagner nicht behaupten. Schade eigentlich, denn das auf Tonträger inzwischen fast vollständig vorliegende kompositorische Schaffen Siegfrieds ist ein schillernder Kosmos, der die virulenten Themen des frühen 20. Jahrhunderts eigenwillig und stellenweise ungewöhnlich spiegelt.

Jetzt schaut es aber endlich danach aus, als würden sich kleine Siegfried-Wagner-Festspiele im Schatten der großen Richard-Wagner-Festspiele Bayreuths konsolidieren – ab 2023 in der dann nach gründlicher Restaurierung wieder eröffneten Stadthalle. Denn Wilhelmines Markgräfliches Opernhaus, in dem man 2019 Siegfrieds berückende Märchen-Collage „An allem ist Hütchen schuld“ spielte, ist viel zu klein für dessen opulent instrumentierte Partituren. Dabei setzen die Beteiligten bei manchen Werken schon zur dritten Runde an. So kamen Siegfrieds 1912 vollendete, allerdings erst 1918 in Darmstadt uraufgeführte „Sonnenflammen“ konzertant bereits in Wiesbaden 1979 und in einer musikalisch fulminanten, auf CD festgehaltenen Ausführung in Halle 2003 heraus. Gerade wegen der Luxus-Besetzung mit Roman Trekel, Michaela Schuster und Niels Giesecke gingen da so manche individuelle Details von Siegfrieds Textgestaltung im Bad der großen Töne und ambivalenten Gefühle unter. Die latente Doppelbödigkeit des Werks erlebte man am letzten Wochenende durch das persönlichkeits- und ausdrucksstarke Ensemble weitaus deutlicher.

In Bayreuth gab es die erste szenische Aufführung von „Sonnenflammen“ seit dem Zweiten Weltkrieg: Nachdenklich trotz Bilderflut und bestens angemessen der singulären Position Siegfrieds zwischen Komponistenkollegen wie Strauss und Schreker. Die Sänger siegten mit der Beherztheit einer bis an die Zähne bewaffneten römischen Legion. Das aus der Corona-Not geborene digitale Orchester erwies sich allerdings als fragwürdig. Zudem war das schmal subventionierte Unterfangen im Vorfeld durch zwei schwere menschliche Verluste gefährdet: Am 10. November starb der Dirigent Werner Andreas Albert, der bei cpo eine beachtliche Reihe von Werken Siegfried Wagners einspielte und „Sonnenflammen“ hätte leiten sollen. Am 26. Juli wurde der Tenor Johannes Föttinger kurz vor Probenbeginn in seiner Wohnung tot aufgefunden. Die Veranstalter widmeten die Produktion den beiden wichtigen Mitstreitern der Siegfried-Wagner-Renaissance.

Mit intelligenter Verspieltheit und gekonnter Selbstironie näherte sich Peter P. Pachl dem von Siegfried in Vater Richards Manier getexteten und vertonten Opus. Sinnig verortete er Konzept und Aufführungsort: Im ehemaligen Kino Reichshof hatte Siegfried mit seiner Ehefrau Winifred oder nahestehenden Freunden möglicherweise den ein oder anderen Film gesehen. Bei Pachl springt in Auge und Ohren, dass die mit ausladenden Melodien bedachten Figuren Siegfrieds sich verhalten, als seien sie ständig auf dem Sprung zwischen Verhaltenstherapie und Kostümball. Wer befürchtet hatte, dass ein ‚digitales Orchester‘ in naher Zukunft die physische Klangerzeugung erübrigen könnte, lehnte sich beruhigt zurück. Ulrich Leykam hatte sich der elektronischen Plage und Mühe unterzogen, jede Orchesterstimme aufzunehmen und vor dem Mix klangfarblich korrekt zu digitalisieren. Das bedeutete allerdings, dass die Zuspielung des digitalen Orchesters ohne Rücksicht auf die sängerische Tagesform, ohne flexible Tempowechsel und ohne das realen Orchestermusiker*innen mögliche Reaktionsspektrum abgehen musste. Wenn nötig, schob man am Mischpult vor allem in den von den über 20 Solist*innen übernommenen Chorszenen den Regler nach unten (Ton: Jochen Schoberth). Das erwies sich als pragmatische und deshalb lässliche Sünde an der Musik – „Sonnenflammen“ wird in einem der nächsten Jahre ohne künstlerische Pandemie-Kompromisse wiederholt werden. Das Ensemble schlug sich in den für die Hauptpartien strapaziösen Anforderungen der pausenlosen Aufführung imponierend.

Ein karnevalesker Theatercoup sind Christian Bruns‘ Kostümen. Antike prallt auf Ramsch, Comedy auf Genie. Hinter bunten Stäben treibt Robert Pflanz Videospots in den Geschwindigkeitsrausch. Da streift er die in das Massensterben von Verdun marschierenden Soldaten des Ersten Weltkrieg und hält inne bei Wehrmachtsbespaßungen des Schlagergewerbes. Schließlich gehen Aida-Kreuzfahrtschiffe als Geißeln des unsinnigen Ressourcenmissbrauchs mitsamt allen Beteiligten unter Atompilz und Atemmaske zugrunde. Dieses Design wirkt klug in seiner improvisierten Unfertigkeit und legitimiert sogar die empfindliche Schmälerung von Siegfrieds Orchestersound durch die Konserve. Aus Opulenz wird Blech. Der Klang ist extrovertiert, aber auch hohl wie das kollabierende Byzanz.

Toll treiben es die alten Byzantiner und die alten Franken. Geschlechtsverkehr wird allerdings häufiger zerredet als ausgeübt. Wenn es doch zu Paarungen kommt, vollziehen sich diese in Lieblosigkeit zwischen den falschen Beteiligten oder nach Betrug. Die byzantinische Partymeile ist trotzdem so aufgesext, wie man sich das als Leser von „Ein Kampf um Rom“ oder „Quo vadis“ vorstellt. Am besten versteht man noch Kaiserin Irene, die sich mit ihrem behinderten Sohn umbringt und als Geist rechtzeitig zur byzantinischen Menschheitsdämmerung wiederkehrt (Rebecca Broberg). Den Kreuzfahrer Fridolin – sicher kein Selbstporträt Siegfried Wagners – treibt es wegen außerehelicher Seitensprung-Zwischenfälle nach Byzanz. Er glotzt sehr oft in die Cyberbrille und wird trotzdem nicht schlauer. Lieber verlottert er im moralischen Treibhausklima als bei den trinkfreudigen Kreuzrittern, verliebt sich neu und wird durch etwas unvorteilhafte Umstände zum zweiten Hofnarren. Fridolins Auserwählte Iris (Julia Reznik) kann Männer aber nur aus räumlicher Distanz lieben. Deshalb schiebt sie dem an durch Reizüberflutung verursachter Bildungsferne leidenden Kaiser Alexios, den Uli Bützer als fast liebenswerten Hurrikan charakterisiert, ihre Freundin als Liebesgespielin zu. Westliche Truppenbewegungen und nahöstliche Feierlaune lassen den Konfliktspiegel bedrohlich ansteigen und bringen das Problemfass zum Überlaufen. Fridolin stirbt an symbolischem Sonnenstich. Äußerst beeindruckend, auch weil Giorgio Valenta mit guter Gesangsschulung durch alle Tücken der Partie rudert und dabei aussieht wie ein auf dem Rummelplatz verlotterter Drachentöter.

Die Darsteller tänzeln, rappen und machen Halligalli, bis der Arzt kommt. Hier ausnahmsweise ohne das heutige Lieblingsrequisit Smartphone, Dafür hat Pachls Inszenierung etwas von jenem schrillen Spleen, mit dem die Studiobühne Bayreuth vor einigen Jahrzehnten ins überregionale Gerede kam. Bis jetzt ist dieser obsessive Geist, die Lust an provokativer Maskerade und durchtriebener Pseudonaivität also lebendig. Liebhaber gut abgehangener Opernschinken kommen bei dieser Inszenierung wenig und mit Siegfried Wagners Opus 8 selbst noch weniger auf ihre Kosten. Bevor die Handlungskarre endgültig im dramatischen Schlamm steckt, setzt der andere Bayreuther Dichterkomponist mehrere umgangssprachliche Wendungen oder schlichte Musikgeste, die alles ein bisschen weniger schlimm erscheinen lassen. So gelingt Siegfried nicht weniger als ein Fluchtpunkt aus dem raunenden Dampf des pathetisch-monströsen Wagnerschen und nach-Wagnerschen Musikdramas. Siegfrieds wunderschöne Melodien dauern mitunter länger als seine dramatischen Reißleine. Das zeigt sich auch bei der der Figur des Narren Gomella, den sich William Wallace und Dirk Mestmacher nach dem Tod von Johannes Föttinger untereinander aufteilten. Dieser androgyne Spottvogel in Feinstrumpfhose ist gefährlich und deshalb so spannend wie Mime oder Herodes. Starker Applaus für diesen wunderbaren Mix aus großer Oper und Off-Theater. Bis zum 29. August wird in der Bayreuther RW21 Galerie eine Ausstellung zu diesem Musikdrama und dessen Symbolik gezeigt.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!