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Prospero mit Sekretärin. (Marc-Olivier Oetterli und Corinna Hartmann). Foto: Nils Klinger
Prospero mit Sekretärin. (Marc-Olivier Oetterli und Corinna Hartmann). Foto: Nils Klinger
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Mit vorgeschnallter Banane und Stichsäge – Berios „Un Re in Ascolto“ und Puccinis „Turandot“ am Staatstheater Kassel

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„Ab nach Kassel“ war ein hämischer Spruch, mit dem die deutsche Öffentlichkeit 1871 den geschlagenen Franzosenkaiser Napoleon III. in die Gefangenschaft auf Schloss Wilhelmshöhe begleitete. „Ab nach Kassel“ kann man heute demjenigen empfehlen, der sehen will, wozu mittlere deutsche Bühnen noch in der Lage sind. Die Musiktheater-Sparte des Hessischen Staatstheaters beeindruckt immer wieder nicht nur durch ihr hohes künstlerisches Niveau, sondern auch durch ihre durchdachte Programmdramaturgie. Da hat man schon die seltene Gelegenheit, Luciano Berios „Un Re in Ascolto“ von 1984 zu erleben, und dann gibt es am nächsten Abend auch noch Giacomo Puccinis „Turandot“ – in Berios Schlussfassung.

Berios „Un Re in Ascolto“

Eigentlich hatte Luciano Berios Librettist Italo Calvino für den Opernauftrag der Salzburger Festspiele eine ordentliche Bühnenhandlung konzipiert. Doch Berio machte daraus eine „Oper über die Unmöglichkeit, eine Oper zu schreiben“ (Ulrich Schreiber) und mischte in jahrelanger Arbeit Calvinos Entwurf mit Fragmenten aus William Shakespeares „Der Sturm“ (in einer Fassung des deutschen Dichters Friedrich Wilhelm Gotter), mit einem Aufsatz von Wystan Hugh Auden über das Shakespeare-Stück und mit Passagen aus einem persönlichen Brief Calvinos zu einer „szenischen Aktion“. Mit anderen Worten: Er dekonstruierte Calvinos Entwurf und zugleich die Institution Theater. Aus Shakespeares Herrscher Prospero, wird zugleich Prospero, der alte Theaterintendant, an dessen Theater der „Sturm“ geprobt wird. Er träumt immer noch von seinem Theater-Ideal und einer menschlichen Stimme, die ihm wirklich etwas zu sagen hat, und leidet unter dem prosaischen Betrieb vor, auf und hinter der Bühne als „Schatten, der die Erinnerung nicht erreicht.“

Wie man aus dem lesenswerten Artikel von Schauspiel-Dramaturg Thomaspeter Goergen „Wo steht das Schauspiel heute?“ im aktuellen Kasseler Theatermagazin schließen kann, war Berio damit ästhetisch auf der Höhe der Zeit. Anfang der 1980er Jahre waren Postmoderne, Dekonstruktion und das „Ende der großen Erzählungen“ angesagt. Die Theorien Jacques Derridas, Jean-François Lyotards und anderer lieferten die Stichworte für zahlreiche „postdramatische“ Aufführungen, kamen dabei aber auch – wie man als kritischer Beobachter feststellen durfte – dem Erfindungs-, Spiel- und Selbstdarstellungdrang von Regisseuren angenehm entgegen. Eine Geschichte auch da zu erzählen, wo eine Geschichte erzählt werden soll, galt als ästhetisch zurückgeblieben. Selbst in mittleren oder kleineren Provinztheatern war und ist die Identifikation des Zuschauers mit dem Bühnengeschehen oft unerwünscht, auch wenn – um den inzwischen wieder entdeckten Philosophen Wilhelm Schapp zu zitieren – der Mensch ständig in Geschichten und auch in Geschichte verstrickt ist. „Unerschütterlich dekonstruiert das Diskurstheater von Elfriede Jelinek oder René Pollesch uns alle als Collage von Gender, Porno, Kitsch, Zitat“, schreibt Thomaspeter Goergen zur neueren Entwicklung, und sieht nichtsdestotrotz einen neuen Trend: „Dennoch gewann die Identifikationsfigur angesichts der gespenstischen Transparenz des Internets, der gesichtslosen non-places wie Shoppingmalls und Hotelketten wieder Format.“

Und eben an diesem Punkt setzen in Kassel Regisseur Paul Esterhazy und Ausstatter Mathis Neidhardt an, wenn sie ironischerweise Berios abstraktem, melancholisch-verspieltem Szenario einen ziemlich naturalistischen Theaterbetrieb unterschieben, hinter dem seinerseits ein tragikomisches Zeitbild aufscheint. Was man auf der Bühne sieht, ähnelt verdächtig dem vertrauten Kasseler Staatstheater, nur dass Zuschauerfoyer, Probenbühne und Intendantenzimmer auf einer Ebene zusammengeschoben sind. Ein großer Abreißkalender zeigt den 7. August 1984, den Tag der Uraufführung von „Un re in ascolto“ bei den Salzburger Festspielen. Und da sitzt nun vor vielen Weinflaschen auf seinem Intendanten-Sessel Prospero (Marc-Olivier Oetterli) – gealtert, misanthropisch und autoritär, langhaarig und mit Sonnenbrille, gelangweilt und doch sehnsuchtsvoll. Als traurigen Rest altlinker Träume hat er sich eine sorgsam zusammengelegte Sowjet-Flagge aufgehoben. Niemand macht es ihm wirklich recht: Weder sein Helfer Ariel noch der gehetzte Dramaturg (Heiko Schmelz), weder die resolute Ehefrau (Maren Engelhardt) noch die dralle blonde Sekretärin (Corinna Hartmann), und auch nicht die Sängerinnen, die zum Vorsingen kommen, aber nach kurzer (buchstäblicher) Fühlungnahme ungnädig entlassen werden. Nur für den „Clown“, einen schweigenden kleinen Buben, der sein Enkel sein könnte, scheint er väterliche Gefühle zu hegen. Sehnsuchtsvoll, Hand in Hand, schauen die beiden aus einem Fenster, das schon längst zugemauert ist.

„Postdramatische“ Absurditäten

Für die bevorstehende „Sturm“-Aufführung hat Prospero sich einen Regisseur (Markus Francke)  engagiert, der wie sein jüngeres Alter Ego ausschaut. Freundlich wirbt dieser vor Beginn einen als Zuschauer getarnten Darsteller (Gunnar Seidel) zum Mitspielen, doch dann springt er übel mit ihm um, lässt ihn schwarz schminken und zum Wilden ausstaffieren. „Freitag“, dem „Caliban“ im „Sturm“ ähnlich, gibt, wie man so sagt, dem Affen Zucker, und treibt Schabernack mit einer vorgeschnallten Banane und einer Stichsäge. Die entzweigesägte Sekretärin, deren Oberkörper zwischenzeitlich im Kühlschtank verstaut wird, feiert allerdings gegen Ende fröhliche Auferstehung. Nicht weniger mit dem Klischee spielt die Regie, wenn sie die Gebärdendarstellerin Christina Schönfeldt im Hosenanzug der Werbefigur Klementine aus der Ariel-Werbung auftreten lässt, oder wenn der Akkordeonist (Roman Komassa), zu dessen Auftritten nie ein Akkordeon spielt, als Sowjetsoldat mit Stechschritt skurrile Russland-Nostalgie verbreitet.

Dass über all diesen „postdramatischen“ Absurditäten Prospero sein persönliches Schicksal erlebt, ist unverkennbar. Man muss nur auf die zarten, sehnsuchtsvollen Passagen der Musik hören – oder auf die ruppig drohenden, blechschweren Interventionen aus dem Orchestergraben, auf die leise rollende große Trommel, auf die vielsagenden Walzer-Anklänge. Alexander Hannemann und das das Staatsorchester bringen Berios Partitur ebenso exakt wie ausdrucksvoll zur Geltung. Prospero erleidet einen Zusammenbruch, die Mitarbeiter stehen besorgt um die Couch, Arzt und Krankenschwester versorgen ihn. Dennoch klingt hier das „Addio“, der Abschied, als Leitmotiv deutlich genug auf. Und kaum hat er sich erholt, erscheint aus der Bodenluke sein Doppelgänger – ein altes romantisches Motiv für die Gefährdung der eigenen Identität. Einträchtig sitzen die beiden zunächst nebeneinander auf der Couch, doch dann erwürgt Prospero im Selbsthass sein Ebenbild, und Freitag / Caliban darf die Leiche in die Bodenluke zurückstopfen.

Als dann eine Sängerin das zugemauerte Fenster aufsprengt und auf seinen Arbeitstisch tritt, hört Prospero das erste Mal gebannt zu. Später wird man die Frau an einem aufgenähten gelben Judenstern als Überlebende erkennen – ein Mensch mit einer Geschichte, eine Zeugin auch dafür, wie Geschichte Menschen prägt. Der alte Intendant zieht liebevoll den schwarzen Vorhang vor das kleine Bühnenmodell in seinem Büro. Dann ist auf der Bühne Theaterpause: Das Publikum strömt ins Foyer und besieht sich verwundert den im Privathabitus auftretenden Chef und die Unordnung in dessen Zimmer. Prospero spricht zu den Leuten, nimmt sogar die abschirmende Sonnenbrille ab, doch man interessiert sich nicht wirklich für seine Botschaft, strebt zum Pausenbüfett. Nur einer Zuschauerin ist die Situation nicht geheuer, sie bleibt beobachtend stehen, wird aber wenig später vom Ehemann weggeholt. Da steigt dann Prospero wie schon einmal zu Anfang auf den auf der Couch gelagerten Bücherstapel, faltet die Sowjetfahne sorgfältig zum straffen Tuch – und erhängt sich an einem dicken Kabel, das aus der Wand ragt. Stehen bleibt ein leiser Akkord im Orchester – und mit ihm die Hoffnungen und Illusionen einer ganzen Generation.

Puccinis „Turandot“

Auch „Turandot“ am nächsten Abend erzählt nicht nur eine Geschichte, sondern handelt ganz offensichtlich von Geschichte. Regisseur Markus Dietz, Bühnenbildnerin Ines Nadler und Kostümdesignerin Henrike Bromber verzichten fast vollständig auf das beliebte chinesische Dekor. Eine Tiefgaragen- und Betonoptik ebenso wie die schwarz-weiß-grau gekleideten Volksmassen verweisen auf das heutige, verwestlichte China. Wieder dirigiert Alexander Hannemann, und das Staatsorchester spielt nicht weniger präzise und engagiert als am Vortag. Puccinis Musik wirkt nun ausgesprochen unheimlich. Neben der bombastischen Kaiserhymne und den dröhnenden Fanfaren, neben den zwanghaften Wiederholungen und den unheimlichen Mixturklängen erscheinen die kleinen Chinoiserien als oberflächliche Dekoration. Ungewöhnlich viele unbegleitete Gesangspassagen lassen die Protagonisten nackt, schutzlos, oft genug auch mutig erscheinen. Es fällt schwer, hier nicht auch an den in den Jahren der Komposition heraufziehenden Faschismus zu denken.

Und während der alte Kaiser Altoum krank und hilflos auf dem Thron sitzt und zur Menschlichkeit mahnt – Ji Hyung Lee markiert ihn mit charakteristischer Greisenstimme –, macht seine Tochter Turandot unter der Hand das Land zum Polizeistaat und erhebt ihre Angst vor Männern und den Hass auf sie zur Staatsdoktrin. Ping, Pang, Pong, die drei Staatsbeamten, sind in Dietz‘ Inszenierung keine komischen Figuren, sondern tatsächlich die „Minister des Henkers“, als die sie sich selbst apostrophieren. Der turkmenische Prinz Calaf steht hier vor einer enormen Herausforderung. Er muss nicht nur die tödliche Rätselprobe bestehen, sondern, sollte dies wider Erwarten gelingen, die Prinzessin aus einem Denkmal wieder zu einem Menschen machen. Das Schicksal der geplagten Bevölkerung, die ihn zu fliehen bittet, ist ihm egal: „Mag die Welt untergehen, ich will Turandot!“

Markus Dietz gelingt eine ausgesprochen subtile Personenführung. Hector Sandoval singt und spielt den Calaf sehr eindrucksvoll – nicht als Draufgänger, sondern als mutigen Menschen mit wacher Beobachtungsgabe und überragender emotionaler Intelligenz. Obwohl Kelly Cae Hogan auch stimmlich die gebotene Dominanz ausstrahlt, ist er doch klüger als die sich eiskalt gebende Prinzessin, und die Wärme seines Tenors überstrahlt ihren im Blutrausch gestählten Sopran. Doch wie aus den beiden ein glückliches Paar werden soll, ist schwer vorstellbar. Dass Puccini ein solches Happy End nicht gelingen konnte, macht die Aufführung doppelt deutlich, denn Turandot ist eben nicht nur ein fehlgeleiteter Mensch, sondern ein fehlgeleitetes Prinzip, das sich die ganze Gesellschaft und den ganzen Staat unterworfen hat – in ähnlicher Weise monströs wie die wie Diven agierenden Diktatoren Mussolini, Hitler oder Stalin.

Luciano Berio hat in seine Schlussfassung die Zweifel einkomponiert. Calafs berühmte Arie „Nessun dorma“ bleibt die einzige und letzte Passage, in der sich italienisches Melos frei verströmt. Nach dem Opfertod der liebenden Sklavin Liù verdichtet Berio die Musik ins Grüblerische; die bekannten Motive scheinen zwar auf, aber zurückgenommen in ein tastendes, dialogisches Vorwärtsschreiten, das an Richard Wagner oder, mehr noch, an Franz Schreker erinnert. Nach langem Ringen miteinander treten dann Calaf und Turandot Hand in Hand vor den Kaiserthron. Doch Altoum wird nicht mehr sichtbar. Entweder ist er inzwischen zu schwach, sich aus seinem überdimensionalen Kaisermantel zu schälen, oder er hat bereits das Zeitliche gesegnet. Noch einmal weitet die sich die Perspektive hinaus über das junge Paar: Calaf und Turandort müssen sich nun auch zum Regieren zusammenraufen.

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