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Musik draußen. Foto: Hufner
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Musik auf Abstand, Teil 3: Singen im Freien – Von Bernhard König

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Gesang verbindet. Wo Menschen sich im Gesang vereinen, da vereint sich auch ihr Atem und wird zur potentiellen Gefahr für Leib und Leben. In der Romantik hätte dieser Stoff Anlass für schaurig-schöne Lieder, Gedichte und Novellen geboten – die literarische Auseinandersetzung mit der dämonischen Macht der Musik stand damals hoch im Kurs. Wir Menschen des 21. Jahrhunderts erklären uns die Dinge lieber wissenschaftlich – doch Wissenschaft ist nicht immer eindeutig. Die Antworten auf die Frage nach dem Ansteckungsrisiko beim Singen sind vielstimmig; die entsprechenden Vorgaben variieren von Bundesland zu Bundesland.

Der Grund, warum gerade beim Chorgesang von einem erhöhten Risiko auszugehen ist,  ist ebenso einfach wie einleuchtend: Wenn fünfzig Menschen sich zu einer Gesprächsveranstaltung versammeln, dann sprechen in der Regel nur einige wenige, während die Mehrheit zuhört und schweigt. Eine Chorprobe hingegen entspräche einer Versammlung, bei der diese fünfzig Menschen ununterbrochen sprechen würden – und zwar alle gleichzeitig. Bereits diese stark erhöhte stimmliche Aktivität genügt, um eine erhöhte Viruslast zu erklären. Ob sich das Aerosol beim Singen auf andere Weise ausbreitet als beim Sprechen, ist demgegenüber eher sekundär.

Mittlerweile sind auch in den deutschsprachigen Untersuchungen und Empfehlungen die beiden Faktoren „Raumgröße“ und „Belüftung“ in den Fokus gerückt. Und so könnte ein vorsichtiges Fazit des gegenwärtigen Forschungsstandes lauten: Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht – es sei denn, man ginge zum Singen nach draußen und hielte zwischen den Sänger*innen in alle Richtungen zwei, drei oder mehr Meter Abstand. Dass es darüber hinaus keine einfachen Antworten gibt und sich vieles derzeit noch im Aerosol-Nebel des Ungewissen befindet, scheint für Wissenschaftler*innen ein Stück Normalität zu sein. Für sie ist Vielstimmigkeit wertvoll und ein wesentlicher Teil des Diskurses.

In der Chormusik hingegen wird Vielstimmigkeit nur innerhalb klar definierter Grenzen geduldet. Warum dies so ist (und was es mit dem Singen im Freien zu tun hat) wird eines der Themen dieses Textes sein.

Eine abwegige Alternative?

Ich liebe Chormusik und mitunter arbeite ich auch gerne im Freien. Doch aus eigener Erfahrung weiß ich nur zu gut, wie frustrierend und unerfreulich die Kombination aus beidem sein kann. Vor vielen Jahren mobilisierte ich einmal 200 Menschen dazu, im Rahmen eines größeren Projektes singend über die Kölner Hohenzollernbrücke zu wandern. Der Organisationsaufwand war beträchtlich – das Ergebnis mehr als enttäuschend. Damit, dass der Gesang es schwer haben würde, sich akustisch durchzusetzen, hatte ich gerechnet. Was ich aber nicht einkalkuliert hatte war, dass gemeinsam mit den Tönen auch jegliches Gefühl von Gemeinschaftsaktion verpuffte.

Es ist deshalb kein Zufall, dass wir das Thema „Chorgesang im Freien“ zunächst aussparten, als wir Ende März 2020, kurz nach dem Lockdown, unsere Initiative „Musik auf Abstand“ starteten. Zwar vermochten wir im nachbarschaftlichen Balkonsingen, in einer „Blasmusik auf Abstand“ oder im Engagement für eine neue musikalische Begräbniskultur Chancen für Horizonterweiterungen und für die Zeit „nach Corona“ zu erkennen. Doch beim Thema „Chor“ schien unser Ansatz zu versagen: Nach Spielräumen diesseits des Digitalen zu suchen und die Krise als Anstoß und Gelegenheit zu begreifen, Musik neu zu denken.

Viereinhalb Monate später hat sich die Lage hierzulande an vielen Stellen entspannt. Sogar über vollbesetzte Konzertsäle wird wieder nachgedacht). Doch den Chören bleibt es weiterhin verwehrt, zum Gewohnten zurückzukehren. Kein normaler Chorgesang bis zur flächendeckenden Verfügbarkeit eines Impfstoffes: Dies scheint (Stand Mitte August 2020), bei aller Vielstimmigkeit der Begründungen, die realistischste Aussicht zu sein. Bis dahin werden Chorproben und Chorkonzerte in der uns vertrauten Form mit einem unverantwortbar hohen Infektionsrisiko verbunden bleiben. Die Chorkultur zählt damit zu den großen Verliererinnen dieser Krise – eine Tragödie, die sich in zahllosen bitteren Einzelschicksalen niederschlägt. Da ist der Kirchenmusiker, dem binnen weniger Monate die gesamte Substanz einer jahrelangen, liebevollen und kontinuierlichen Aufbauarbeit zerbröselt, die von der Kinderkantorei bis zum Seniorenchor alle Altersstufen abdeckte. Da ist die professionelle Sängerin des Opernchores, der die Angst im Nacken sitzt, ob sie überhaupt jemals wieder in der vertrauten Form wird arbeiten können: Werden, wenn Corona irgendwann vorbei ist, die Subventionen überhaupt wieder fließen? Oder wird es sich als fataler Bumerang erweisen, wenn man bis dahin monatelang unfreiwillig unter Beweis stellt, dass ein Opernbetrieb sich ja irgendwie auch mit einem Chor in Kurzarbeit oder in solistischen Kleinstbesetzungen durchwurschteln kann?

Und da die ist Basis. Mit rund vier Millionen beziffert das Deutsche Musikinformationszentrum die Zahl der aktiven Chorsänger*innen in Deutschland. Wie viele informelle Freundeskreise, wieviel wöchentliche Lebensfreude, ästhetischer Genuss, individuelle Gesundheitsvorsorge und stabilisierender Sozialkontakt verbirgt sich hinter dieser Zahl? Und welchen Zuwachs an Einsamkeit bedeutet es, wenn diese vier Millionen, statt sich zum Singen zu treffen, daheimbleiben?

Der Leidensdruck ist also groß. Doch für viele Chöre ist er offenbar nicht groß genug, um die Alternative „Singen im Freien“ auch nur in Betracht zu ziehen. Lieber verabredet man sich zu „Zoomproben“. Will sagen: Lieber bleibt man im eigenen Wohnzimmer und singt für sich alleine, derweil in einem anderen Wohnzimmer eine einsame Chorleiterin steht und dirigentische Trockenübungen aufführt. Dabei könnte das gemeinsame Musizieren gerade in Krisenzeiten eine wertvolle Ressource sein. Wenn Millionen Chorsänger*innen sich entscheiden, unter den Bedingungen der Covid-19-Pandemie lieber auf diese Ressource zu verzichten, als zum Singen nach draußen zu gehen, dann muss es dafür sehr triftige Gründe geben. Und spätestens hier reizt es dann doch, einen etwas genaueren Blick hinter die scheinbare Selbstverständlichkeit des Abwegigen und Unmöglichen zu werfen. Ist es wirklich derart inakzeptabel, zum Singen in den Wald oder in den Stadtpark zu gehen, dass Hunderttausende Chorfreunde und -freundinnen es stattdessen vorziehen, einsam zu Hause zu sitzen und zwei Kilo Kupfer, Aluminium und Plastik anzusingen? Oder besteht die Ab-Wegigkeit des Draußensingens möglicherweise doch nur im Verlassen gewohnter Denkpfade? Einige Versuche, den Zumutungen des Singens im Freien auf den Grund zu gehen.

Die erste Hürde: Das Freie als Störung

Wer draußen singt, wird gestört oder stört andere. Über den aufdringlichen und potentiell belästigenden Charakter der Musik ist von Immanuel Kant („nichts als Geplärre“) über Kurt Tucholsky („Gott schenke uns Ohrenlider“) bis zu Peter Jona Korn („musikalische Umweltverschmutzung“) viel geschrieben und gespottet worden. Der Belästigung anderer lässt sich relativ leicht Abhilfe schaffen, indem man die Chorprobe nicht mitten ins Wohngebiet, sondern in einen Park oder an den Ortsrand verlegt. Dafür, dass diese Option eher selten in Betracht gezogen wird, dürfte die Störanfälligkeit von Musik eine größere Rolle spielen, als die von ihr ausgehende Störung anderer. Je weniger tragfähig die akustische Quelle ist, umso mehr nimmt diese Anfälligkeit zu. Für Blechbläser*innen ist es einfacher, im Freien zu musizieren, als für Chöre oder Streicher*innen (wobei bei letzteren als zusätzlich erschwerender Faktor noch die Empfindlichkeit des Instrumentariums gegenüber Feuchtigkeit und Temperaturschwankungen hinzukommt). Wirklich still ist es draußen nie. Musik im Freien tritt deshalb in Konkurrenz mit einer Vielzahl von natürlichen oder menschengemachten Umgebungsgeräuschen. Die Skala der daraus resultierenden Beeinträchtigung kann von punktueller Ablenkung bis hin zum dauerhaften Übertöntwerden reichen.

Doch selbst wenn es auf den ersten Blick so erscheinen mag, ist die Störanfälligkeit von Musik keine objektive Größe, sondern das Resultat eines kulturellen Lernprozesses. Rein quantitativ und historisch betrachtet dürfte sich der weitaus größte Teil menschlichen Musizierens im Freien abgespielt haben. In vielen Musikkulturen wurde und wird überwiegend draußen gesungen: Auf dem Feld oder unter der Dorflinde, bei Prozessionen und Festen, auf Flößen und Berggipfeln. Große Teile des gängigen Chorrepertoires (Volks- und Wanderlieder, Go down Moses und Bella ciao) stammen ursprünglich aus einer solchen Musizierpraxis „im Freien“ und wurden erst nachträglich nach Drinnen geholt.

Wirft man einen Blick in die europäische Musikgeschichte, dann lässt sich darin ein Muster erkennen. Die Geschichte der klassischen Konzertkultur ist zugleich auch eine Geschichte der fortschreitenden Abschirmung der Musik von äußeren Störungen. Fanden die ersten bürgerlichen Konzerte noch in Vergnügungsparks, Gaststätten und Privathäusern statt, sorgten ab dem Ende des 18. Jahrhunderts Konzertsäle mit Publikumsbestuhlung und einer zunehmend optimierten Akustik für Störungsfreiheit und Fokussierung auf das Klingende. Was sich in dieser architektonischen Entwicklung ausdrückte, war eine enorme Aufwertung der Musik. Sie rückte vom angenehmen Hintergrundgeräusch in den Mittelpunkt der kollektiven Aufmerksamkeit, wurde zum Zentrum eines neuen Rituals der kollektiven, andächtigen Kontemplation.

Dies alles ging nicht isoliert vonstatten, sondern war Teil jenes übergeordneten Prozesses der bürgerlichen Emanzipation, Urbanisierung, Technisierung und Arbeitsteilung, den wir heute, je nach Blickwinkel, als „Aufklärung“ oder „beginnende Industrialisierung“ bezeichnen. Von Anfang an wurde dieser Prozess von Kritik begleitet. Was für die einen Fortschritt war, wurde von den anderen als Entfremdung und Verlust wahrgenommen. Und obwohl Musik auf der Ebene ihrer eigenen Institutionalisierung und Ökonomisierung ein sehr aktiver und expansiver Teil dieser Entwicklung war, bezog sie auf inhaltlicher Ebene häufig eine eher fortschrittsskeptische Gegenposition.

Ein Klassiker der romantischen Natursehnsucht ist Felix Mendelssohn Bartholdys berühmte Eichendorff-Vertonung Abschied vom Walde, in der der „schöne grüne Wald“ zum Sehnsuchts- und Rückzugsort innerhalb einer entfremdeten „geschäftgen Welt“ voller „trüben Erdenleids“ wird. Dass die Erfindung des Konzertsaals seinem eigenen Berufsstand eine enorme Aufwertung beschert hatte, hielt Mendelssohn nicht davon ab, den Verlust des Draußen auch innerhalb der Musikkultur als Teil des zivilisatorischen Entfremdungsprozesses darzustellen. Als er seine volkstümlichen Chorlieder in den 1830er Jahren veröffentlichte, war das Singen in geschlossenen Räumen bereits so sehr zum Normalfall geworden, dass er seinen Zyklus ausdrücklich mit „im Freien zu singen“ betitelte. In einem Brief an seine Mutter beschreibt er eine Aufführung im Frankfurter Stadtwald „tief im Walde, wo hohe, dicke Buchen einzeln stehen“ als ein romantisch verklärtes Ausnahmeerlebnis: „Wie lieblich da der Gesang klang, wie die Sopranstimmen so hell in die Luft trillerten, und welcher Schmelz und Reiz über den Tönen war, alles so still und heimlich und doch so hell (...) da war es in der Waldstille so bezaubernd, daß mir fast die Thränen in die Augen kamen. Wie lauter Poesie klang es“.

Knappe zwei Jahrhunderte später wird unsere Wahrnehmung von Musik von zwei Formen der Normalität geprägt. Da ist zum einen ihre Omnipräsenz als unterschwelliges Hintergrundgeräusch in Cafés, U-Bahn-Stationen, Läden und in Medien aller Art – und da ist zum anderen ein Zustand der völligen Störungsfreiheit, der uns dort, wo wir uns konzentriert auf Musik einlassen möchten, als selbstverständlich erscheint, den es aber tatsächlich erst seit wenigen Jahrzehnten gibt. Erst mit der Kombination aus digitaler Produktion, rauschfreier Konservierung und optimierter Wiedergabetechnik vermochte sich die Musik eine eigene Daseinsform zu erobern, die von den akustischen Einflüssen der restlichen Welt vollständig entkoppelt ist.

Es mag mit dieser neuen Normalität zu tun haben, dass sich Aufführungen im Freien in den letzten Jahrzehnten wachsender Beliebtheit erfreuen. In der Regel sind sie durch Mikrophonierung oder eine geschickte Ausnutzung akustischer Gegebenheiten so optimiert, dass sich die Störung durch Außeneinflüsse in Grenzen hält. Wo auf eine solche Optimierung verzichtet und Störung zugelassen wird, geschieht dies in der Regel sehr bewusst. Mal verstehen sich entsprechende Aufführungen als Intervention und Interaktion im öffentlichen Raum, mal sind sie programmatisch mit jener Natursehnsucht aufgeladen, die schon Mendelssohn kannte. Mitunter wird das, was als Störung oder Ablenkung wahrgenommen werden könnte, auch konzeptionell in einen erweiterten Kunstbegriff eingebunden: Umgebungsgeräusche werden zum Begleitorchester, der Wind zum musikalischen Akteur, der Sternhimmel zur Partitur. Jene Aura des Herausgehobenen, Besonderen und Alltagsentrückten, die die Menschen einst zum Musikgenuss in geschlossene Räume lockte, kehrt nun dadurch zurück, dass man eben diese bewusst wieder verlässt. Doch abgesehen von derartigen dramaturgisch begründeten Sonderfällen bleibt die absolute Störungsfreiheit ein Mindestkriterium für das, was wir heute unter „Musikgenuss“ verstehen.

Das Verhältnis zwischen Musik und akustischer Abschirmung hat sich derweil fundamental umgekehrt. Seit 1979 der erste serienmäßige Walkman auf den Markt kam, darf nicht nur die Musik selber in einer Sphäre der vollkommenen Ungestörtheit existieren – sie schirmt zugleich auch den Menschen jederzeit zuverlässig, effizient und kontrollierbar von seiner oder ihrer akustischen Umgebung ab. Kurt Tucholskys Gebet ist erhört worden: Die Menschheit hat endlich Ohrenlider bekommen.

Übung 1: Das Freie als Klangraum

Gehen Sie mit Ihrem Chor nach draußen. Nehmen Sie die Noten eines Stückes mit, das Ihr Chor sehr gut beherrscht. Zum Beispiel Mendelssohns Abschied vom Walde – viele traditionell orientierte Chöre haben diesen eingängigen Chorsatz so sicher im Ohr, dass sie ihn auch im Freien und „auf Abstand“ problemlos singen können.

Ein kleiner Eingriff in den Originalsatz ermöglicht es, ihn in Dialog mit den Umgebungsgeräuschen treten zu lassen. Das Chorlied wird takt- oder abschnittsweise „auseinandergeschnitten“ und zwischen den einzelnen Abschnitten werden sehr lange Generalpausen eingefügt:

O Täler weit o Höhen
(lange Pause)
O schöner grüner Wald
(lange Pause)

Noch schöner klingt es, wenn der Chor jeweils mit einer überlangen Fermate in diese Pause überleitet:

O Täler weit, o Hö-hennnnnnnnn...
(lange Pause)

Wenn man sich nun traut, die Pausen zwischen den Abschnitten mindestens so lange auszuhalten, dass sich Singen und Nichtsingen zeitlich die Waage halten, dann beginnt sich die Stille in der Wahrnehmung der Singenden (und etwaiger Zuhörer*innen) zu beleben. Die Umgebung mischt sich als musikalisches Inszenierungselement ein und prägt dem Gesang ihren Stempel auf. Ermuntern Sie Ihren Chor dazu, während der Pausen innerlich den musikalischen Spannungsbogen zu halten und das, was ringsum geschieht, mit gesteigerter Intensität und gespitzten Ohren wahrzunehmen, als würde es zur Komposition dazugehören. Es wird einen gewaltigen Unterschied machen, ob man diesen „Mendelssohn mit Pausen“ auf einer abgeschiedenen Waldlichtung oder am Rande einer Autobahn singt.

Wer möchte, kann in den Pausen die Augen schließen. Eine besonders „sportliche“ Wahrnehmungs- und Konzentrationsübung kann dann darin bestehen, trotz Abstand, Umgebungsgeräuschen und geschlossenen Augen nach einer längeren Pause wieder gemeinsam einzusetzen.

Die zweite Hürde: Das Freie als Kontrollverlust

Draußen singt es sich schlechter als drinnen. Unverstärkter Chorgesang im Freien tendiert dazu, ungenau und unsauber zu sein – erst recht, wenn zwischen den Sänger*innen große Abstände eingehalten werden müssen. Wer beim Singen an ein akustische optimiertes „Drinnen“ gewöht ist, kann das „Draußen“ deshalb nur als einen Raum wahrnehmen, der selbst unzulänglich ist und darüber hinaus auch die Singenden mit ihrer eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert. Wir erleben uns als Mängelwesen, deren Stimmen zu leise sind und die auf Distanz schlecht hören. Im Freien zu singen erzeugt eine fortwährende Diskrepanz zwischen dem, was möglich wäre (also einer Idee von Musik) und dem, was tatsächlich erklingt (also deren unvollkommener Umsetzung).

Wie schon beim Thema der besonderen Störungsanfälligkeit von Musik muss man auch hier genauer hinschauen, um zu erkennen, dass diesem scheinbar objektiven Befund kulturelle Prägungen und daraus resultierende Wertungen zugrundeliegen. Eine dieser prägenden Vorannahmen ist das Ideal einer „makellosen“ und möglichst fehlerfreien Musik, das ursprünglich aus der Sphäre des Religiösen stammt. In den Tempeln und Klöstern vieler Kulturen hatte das Ausdrucksbedürfnis der konkreten musizierenden Menschen hinter einer „Idee“ von Musik zurückzutreten. Um dieser Idee (zum Beispiel dem Einstimmen in eine höhere, gottgewollte Harmonie oder der Auslöschung des Individuums im Klang) gerecht zu werden, waren jahrelange, manchmal lebenslange Exerzitien nötig. Als dann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das neue Konzept einer säkular-bürgerlichen Kunstmusik entstand, wurde ihm dieses Prinzip der Makellosigkeit eingeschrieben und nahm später von dort aus auch Einzug in die Laienmusik.

Die digitale Nachbearbeitungspraxis hat den erreichbaren Grad der Makellosigkeit in eine völlig neue Dimension katapultiert. Als die Musikwissenschaftlerin Christiane Tewinkel anlässlich eines Seminars zur „Kulturgeschichte des musikalischen Fehlers“ nach Klassik-CDs mit hörbaren Fehlern suchte, stellte sie fest: Es gibt sie nicht. Niemand würde eine Aufnahme auf den Markt bringen, in der ein Kiekser oder Verspieler zu hören ist. Und so spiegelt sich in der Unzulänglichkeit des Singens im Freien letztlich die generelle Unzulänglichkeit jeglichen Singens wider, das immer weniger dazu in der Lage ist, jenen Grad an Brillianz und musikalischer Makellosigkeit zu erlangen, den wir aufgrund unsere medial geschulten Ohren in wachsendem Maße erwarten.

Aber es kommt noch etwas Zweites hinzu: Auch ein gemeinsamer Atem, gemeinsame Spannungsbögen lassen sich im Freien nur sehr eingeschränkt herstellen. Dirigent*innen, die ihren Chor sonst im Griff haben, erleben das Draußensingen als Kontrollverlust und spüren, wie ihnen das Geschehen entgleitet. Wer unverstärkt im Freien singt, muss sich deshalb zumindest partiell vom Konzept absichtsvoller Gestaltung verabschieden. Dadurch verändert sich das Verhältnis der Singenden zu ihrem Gesang fundamental. Gemeinsam im Freien zu singen bedeutet (zumindest dann, wenn man am Konzept einer metrisch gebundenen Musik festhält), die Kontrolle über die Musik an die Musik selbst abzugeben und sich ihrer verbindenden und synchronisierenden Macht auszuliefern. Wie leicht und niedrigschwellig dies möglich wäre, beweisen singende Pfadfindergruppen und Wandergesellschaften ebenso wie die spontanen Riesenchöre im Fußballstadion. Doch genau hiervon grenzt Chorkultur sich entschieden ab. Es geht ihr eben gerade nicht ums „Mitgröhlen“ (oder, freundlicher ausgedrückt, ums gesellige „Mit-Einstimmen“), sondern um die kollektive Durchformung der Musik. Man könnte auch sagen: Es geht ihr darum, die Musik maximal wertzuschätzen und dies auch zu zeigen.

Unter den Bedingungen der Coronakrise tritt der normativ verbindliche Charakter dieser Wertschätzung in vollem Umfang zu Tage. Obwohl das Infektionsrisiko bei keiner anderen Form des gemeinsamen Singens (mit Ausnahme der virtuellen) niedriger sein dürfte, wird das Draußensingen von vielen Chören als unzumutbar empfunden – und zwar nicht in erster Linie um der Sänger*innen, sondern um der Musik willen. Deren Anrecht auf maximale Qualität wird als so essentiell empfunden, dass sie außerhalb eines abgeschirmten Schutzraumes der Störungsfreiheit und Gestaltbarkeit wertlos wird. Noch wichtiger, als überhaupt miteinander zu singen, ist es, den eigenen Gesang vor Unzulänglichkeiten zu schützen.

Im interreligiösem Dialog habe ich gelernt: Für faule Kompromisse ist in normativen Wertesystemen kein Platz. Wenn das Selbstverständnis und die Freude am Singen in der Chorkultur zwingend mit einem bestimmten Qualitätsstandard verknüpft ist, dann kann die Lösung nicht darin bestehen, um des Singens willen diese Qualitätsansprüche zu verraten. Draußensingen sollte deshalb für Chöre nicht als ein notdürftiger Ersatz verstanden werden, sondern als etwas völlig Neues und Anderes.  Um sich dem ungewohnten und unerforschten Potential der veränderten Situation überhaupt öffnen zu können, kann deshalb ein wichtiger erster Schritt darin bestehen, sich testweise und vorübergehend vom Ziel des Konzertierens und von der Haltung des Interpretierens zu verabschieden und sich klar zu machen: Anders als sonst geht es hier nicht um die adäquate Aufführung von Chorliteratur vor einem zuhörenden Publikum, sondern um eine grundlegend neue Erlebnisqualität des gemeinsamen Singens. Die ungewohnte Umgebung wird das Verhältnis der Singenden untereinander, ihre Selbstwahrnehmung und ihre Verortung im Raum tiefgreifend verändern. Diese Veränderungen wahrzunehmen, ihre Grenzen und Spielräume kennenzulernen und sich auf diese Weise zu neuen Formen und einem neuen Qualitätsverständnis anregen zu lassen, birgt ein gewaltiges Lernpotential. Sich auf dieses Potential einzulassen, bedeutet nicht, das Vertraute abschaffen zu wollen. Es kann aber durchaus bedeuten, eine Zeit der schmerzhaften Einschränkung zu nutzen, um gemeinsam kleine ästhetische Abenteuer zu erleben und den eigenen Horizont zu weiten.

Übung 2: Das Freie als Experimentierfeld

Gehen Sie mit Ihrem Chor nach draußen. Diesmal lassen Sie die Noten daheim. Versuchen Sie, von der veränderten Situation zu profitieren, indem Sie sie für einige Improvisations- und Interaktionsübungen ausnutzen.

Sich in unterschiedlichen Abständen in den Wald oder Park zu stellen und einander improvisatorisch die eigenen Namen zuzusingen, kann kinderleicht sein: „Chriii-stii-aan!“ – „Marieee-Luiiiseee!“. Es kann aber auch hochgradig anspruchsvoll und herausfordernd werden, wenn man beginnt, dieses Frage-und-Antwortspiel mit der gleichen Detailliebe zu gestalten, mit der man sonst an einem vierstimmigen Chorsatz arbeitet. Wie wirken sich verschiedene Entfernungen und Standorte auf die Dynamik aus? Welche Harmonien entstehen, wenn man die gesungenen Namen auf unterschiedlichen Tonhöhen singt und einander überlappen lässt? Welche metrischen Formen ergeben sich durch unterschiedlich schnelles oder langsames Reagieren?

Das schöne an dieser Art von Übungen ist, dass sie beinahe zwangsläufig eine neue Beziehung zwischen den Akteur*innen hervorbringen. Der dirigentische Kontrollverlust, den das Draußensingen mit sich bringt, wird zum Ausgangspunkt für eine neue, teamorientierte Arbeitsweise. Aus dem „Klangkörper Chor“ wird ein Kollektiv aus verantwortungsvoll mitgestaltenden Solist*innen, die eigene Ideen einbringen können. Der oder die Dirigent*in wird dadurch nicht weniger wichtig – im Gegenteil: Nichts ist derartigen Übungen abträglicher, als Beliebigkeit. Die Aufforderung des oder der Anleitenden, „mal irgendwas zu singen“ oder „einen Klangteppich zu produzieren“ stärkt das Gefühl, es handele sich hier um ein anspruchsloses und unernstes Singen zweiter Klasse.

Stattdessen ist in der Chorleitung eine anspruchsvolle Mischung aus Präzision und Flexibilität gefragt: Klar formulierte Aufgaben. Ein genaues Hinhören auf das, was der Chor aus diesen Aufgaben macht. Ein möglichst präzises Feedback, das Qualitäten und Schwächen benennt und daraus eine neue, differenzierende und vertiefende Aufgabe ableitet. Alles in allem also eine dialogische und ergebnisoffene Form der Chorleitung, die sich nicht an einer vorgegebenen Partitur orientiert, sondern an den Einfällen der Chorist*innen – diese aber ebenso ernst nimmt, wie sonst den Notentext.

Lässt man sich als Gruppe auf eine solche veränderte Arbeitsweise ein und betrachtet sie als Training für die eigene Weiterentwicklung, dann kann der Zugewinn an neuen Kompetenzen und Fähigkeiten – auch mit Blick auf eine künftige „normale“ Probenarbeit – beträchtlich sein. Natürlich muss man dabei nicht beim Singen der eigenen Namen stehenbleiben. Versuchen Sie, statt der eigenen Namen die der Sie umgebenden Pflanzen und Tiere zu singen. Die Titel Ihrer Lieblingsfilme. Oder die Namen von Menschen, die Ihnen nahestanden und verstorben sind. Sie werden hören: Mit jeder textlichen Variation wird sich der Charakter des Gesangs grundlegend verändern und der Reichtum an Einfällen erweitern.

Chöre, denen das völlig freie Improvisieren zu ungewohnt ist, können sich alternativ auch eine Einsingübung, einen Kanon oder eine bekannte Liedzeile zum Ausgangsmaterial nehmen. Zum Beispiel das alte Volkslied „Auf einem Baum ein Kuckuck saß“, das in mehrfacher Hinsicht besonders geeignet für ein Corona-bedingtes Singen im Freien ist. In seinem scheinbar trivialen Text klingen Freiheitskampf, Überlebenswille und die Hoffnung auf bessere Zeiten an. Die schlichte Dreiklangsmelodik macht das Lied besonders geeignet für Variationen, Echoeffekte und Überlagerungen aller Art. Die formale Gestalt des Liedes mit seiner „unfertigen“ ersten Zeile und dem anschließenden, magisch-lautmalerischen „Simsalabim“-Scatgesang lädt zu einem spielerischen Umgang ein und signalisiert, dass dieses Lied sich selber nicht allzu ernst nimmt. Und wer dennoch nach Tiefgang sucht, kann das Motiv des erschossenen Kuckucks aufgreifen, um einer bedrohten Tierart zu gedenken, die – anders als im 19. Jahrhundert – eben nicht mehr zuverlässig im Folgejahr „wieder da ist“.

Teilen Sie Ihren Chor in gemischte Kleingruppen auf, die jeweils die Aufgabe erhalten, eigenständig eine Strophe des Liedes zu gestalten. Nach 10-15 Minuten Gruppenarbeit außer Hörweite kehren die Gruppen zurück und führen sich gegenseitig ihre Mini-Kuckucks-Kompositionen vor. Sie werden Ihren Chor – und dieser sich selbst – ganz neu kennenlernen.

Die dritte Hürde: Das Freie als Vereinzelung

Eine besonders unerfreuliche Eigenschaft des Draußensingens besteht darin, dass der gemeinsame Gesang seinen Zusammenhalt verliert und gewissermaßen in seine einzelnen Bestandteile zerfällt. Die Singenden hören sich untereinander nicht mehr, der Wind verweht das Gesungene. Der Chorklang leidet dadurch erheblich. Statt durch eine optimierte Akustik fokussiert und transparent zu werden oder durch einen langen Nachhall zu einem verbindenden Gesamtklang zu verschmelzen, klingt der Gesang von jedem Standort aus ein wenig anders. Der oder die Einzelne hört die eigene Stimme mit all ihren Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten überdeutlich, während die Stimmen der Anderen akustisch in jene räumliche Ferne gerückt werden, in der sie sich tatsächlich befinden. Aus dem „Klangkörper“ Chor wird eine inhomogene Ansammlung von schlecht zu synchronisierenden Einzelnen.

Auch hier verstößt das Klangergebnis gegen eine tiefsitzende, kulturell geprägte Übereinkunft. Unserem Verständnis von schöner Chormusik liegt das Ideal einer spezifischen Form des „Miteinanders“ zugrunde, das nur dann als eingelöst erscheint, wenn die Stimmen der Singenden zu einem chorischen Gesamtklang verschmelzen – was sie aber eben beim Singen im Freien nicht tun. Es mag uns als „natürlich“ und „normal“ erscheinen, dass wir Stimmen, die sich homogen ineinanderfügen, als „schön“ wahrnehmen und Abweichungen von dieser Norm als „nicht schön“. Aber Schönheitskonzepte sind nicht naturgegeben – und selbst wenn sie es wären, ließe sich die Bevorzugung klanglicher Homogenität nicht mit der „Natur“ unserer Wahrnehmung erklären. Im Gegenteil: Dass unsere Spezies in der Lage ist, beim Hören räumlich zu differenzieren und die Stimmen anderer Menschen voneinander zu unterscheiden, anstatt sie als Einheit zu hören, dürfte entwicklungsgeschichtlich ein beträchtlicher Überlebensvorteil gewesen sein.

Schönheitskonzepte sind tradiert und erlernt. Mit anderen Worten: Sie sind Spiegelbild einer bestimmten Zeit mit ihren gesellschaftlichen Werten, Normen und Machtverhältnissen. Dies gilt auch für das Schönheitsideal der klassisch-europäischen Chormusik, das seine Wurzeln im Christentum hat. In der Chorästhetik drückt sich ein bestimmtes Ideal von „Gemeinschaft“ aus, das auf Zusammengehörigkeit zielt und zugleich seine klaren Grenzen kennt. Der gemeinsame Chorgesang gibt den Singenden die Möglichkeit, eine erwünschte, herbeigesehnte oder von ihnen geforderte Zusammengehörigkeit auf idealtypische Weise zu artikulieren und nach außen zu bekennen. Häufig verstärkt und konkretisiert der Text diese Intention, indem er das Verbindende benennt und auf diese Weise erkennbar macht, dass die Gleich-Singenden zugleich auch Gleichgestimmte und Gleichgesinnte sind, die eine gemeinsame Überzeugung, eine Religion oder eine sonstige Gruppenzugehörigkeit miteinander teilen. In seiner inhaltlichen Positionierung ist Chorgesang deshalb häufig sowohl gemeinschaftsstiftend als auch bewusst exklusiv, weil er, um die intendierte Zusammengehörigkeit zu verdeutlichen, zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Wandervögeln und Großstädtern, dem Vaterland und dem Rest der Welt unterscheiden muss.

In der säkular-konzertanten Chorkultur ist dieser Bekenntnis- und Verlautbarungscharakter des gemeinsamen Singens zu einem bloßen Spiel geworden. Die verbindende Glaubensüberzeugung ist durch die kulturelle Übereinkunft einer sängerischen Rollendistanz abgelöst worden: Ob man selber glaubt, was man singt, ist für Publikum und Ausführende in der Regel völlig unerheblich. Um dennoch weiterhin seine gruppenbildende Funktion erfüllen zu können, muss die erkennbare Zusammengehörigkeit vollständig auf die musikalisch-ästhetische Ebene verlagert werden. Chorästhetik, wie wir sie kennen, ist deshalb auf maximale klangliche Homogenität angelegt. Chorische Probenarbeit zielt darauf, gemeinsam „sauber“ zu singen, rhythmisch und metrisch „zusammen zu sein“, stimmliche Individualität zum Verschwinden zu bringen und gut verständlich in den gemeinsamen Text einzustimmen – kurzum: Heterogenität auf allen Ebenen der Musik zu vermeiden.

Chorgesang setzt deshalb eine besondere Mischung aus Können, Übung und Bereitschaft zur Zurücknahme voraus. Wenn ein Teil der Singenden über bestimmte Fähigkeiten nicht oder nur eingeschränkt verfügen, klingt der Gesang weniger schön. Ein einziger Sänger, der nicht mitgeübt hat und die dynamischen Absprachen nicht kennt, kann die Qualität eines vielköpfigen Chores deutlich mindern. Eine einzige Sängerin, die ihre Stimme nicht unter Kontrolle hat oder „zu solistisch“ singt, kann das Ergebnis komplett zerstören. „Richtig“ und „Falsch“, Meisterschaft und Dilettantentum, Teamgeist und individuelle Egotrips werden unmittelbar ästhetisch erfahrbar und unterscheidbar. Entsprechend zentral ist die Homogenität ihres Gesangs für das Selbstverständnis vieler Chöre.

Das Chorsingen selbst wird dadurch zu einer hochgradig exklusiven Angelegenheit. An dieser Exklusivität ist zunächst nichts Kritikwürdiges oder Schlechtes. Sie hat sich kulturell bewährt und hat viele Vorzüge. Sie ermöglichte vom Mittelalter bis in die Moderne eine gewaltige Blüte von unterschiedlichsten musikalischen Ausdrucks- und Gestaltungsformen.

Doch gesellschaftliche Werte können sich ändern. So ist es beispielsweise ein historisch relativ „junger“ Wert, dass die Begegnung von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft und Prägung etwas Schönes und Wünschenswertes ist. Es ist ein „junger“ Wert, dass die Teilhabe an Kultur ein Menschenrecht ist, das auch Menschen mit geistigen oder stimmlichen Beeinträchtigungen zusteht. Und es ist ebenfalls ein „junger“ Wert, dass aktiv herbeigeführte intergenerationelle Begegnungen wichtig sind, weil sie der Alterseinsamkeit entgegenwirken – und dass sie künstlich erzeugt werden müssen, weil das traditionelle Modell des Mehrgenerationenhaushaltes kaum noch existiert. Spätestens bei dieser letztgenannten Thematik dürfte es auf der Hand liegen, dass sie auch und gerade unsere Chöre betrifft.

Natürlich reagiert auch die Chorkultur auf diese neuen Werte. Aber sie integriert nicht, sondern sie verstärkt die Segregation, indem sie am ästhetischen Gebot der Homogenität festhält und sich (sei es durch gezielte Angebote oder durch „unsichtbare Schranken“) immer weiter differenziert: Kinderchöre, Jugendchöre, Seniorenchöre, Chöre für Anfänger und Fortgeschrittene, für Migranten und Alteingesessene, für Sänger*innen mit und ohne geistige Beeinträchtigung. Würde man sich die neuen gesellschaftlichen Werte zum alleinigen Maßstab machen, dann könnte man unsere Chorästhetik, stark zugespitzt, als „inklusionsfeindlich“ bezeichnen. Unser Schönheitskonzept macht es schwer, dass junge und alte Stimmen, europäisches und orientalisches Timbre in ein- und demselben Musikstück zueinanderfinden. Es verdeckt charakteristische stimmliche Unterschiede und verhindert auf diese Weise, dass das Publikum Gelegenheit erhält, die Schönheit stimmlicher Diversität sinnlich zu erleben. Und es trägt auf diese Weise mit dazu bei, dass geistig beeinträchtigte Menschen im Wortsinn zu Behinderten werden.

Doch derartige radikale Zuspitzungen führen nicht weiter. Denn natürlich kann man genauso gut und mit dem gleichen Recht einwenden, dass überzogene Partizipationsansprüche die Kunstfreiheit einschränken und den Tod jeglicher künstlerischen Qualität bedeuten würden. Beide Aussagen sind berechtigt, beide sind wertebasiert und es gibt an dieser Stelle letztlich kein eindeutiges „Richtig“ oder „Falsch“. Unsere Chormusik ist nicht „schlecht“, bloß weil sie exklusiv ist. Das Ziel der kulturellen Partizipation ist nicht „verkehrt“, bloß weil viele Sänger mit Downsyndrom nicht sauber singen können.

In der realen musikalischen Praxis allerdings kann von einer Gleichrangigkeit beider Werte keine Rede sein. Hier behält die ästhetisch begründete Exklusivität eindeutig die Oberhand. Wie wenig der Wert der Inklusion in der Chormusik eine Rolle spielt, zeigt sich in der flächendeckenden Abwesenheit geistig oder stimmlich beeinträchtiger Musiker*innen in unseren Chören. Dass sie dort nicht vorkommen ist so sehr die Regel, dass man es noch nicht einmal bemerkt.

Welche ästhetische Bereicherung es sein kann, Heterogenität in Chören hörbar zu machen, durfte ich mehrfach im Rahmen verschiedener intergenerationeller, interkultureller und inklusiver Projektchöre erleben: Im Generationenchor Northeim, in dem wir die Sänger*innen (die eine Altersspanne von sechs bis 92 Jahren umfassten) nicht nach Stimmlagen, sondern nach altersspezifischen Klangfarben-Registern einteilten. In zahlreichen Projekten des interreligiösen Trimum-Chores, in denen die markanten Unterschiede zwischen orientalischer und europäischer Gesangstechnik gezielt eingesetzt werden, um Abgrenzungen und Brückenschläge zwischen den Religionen zu verdeutlichen. Oder im Ludwigsburger Diversity-Chor, in dem unser Ehrgeiz darin besteht, eine Chorästhetik zu entwickeln, die so heterogen wie möglich ist, ohne dadurch beliebig zu werden.

Setzt man dieses veränderte ästhetische Paradigma konsequent um, dann tut sich eine faszinierende Fülle an neuen Herausforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten auf. Mit den üblichen Handwerksregeln einer streng synchronisierenden Chorleitung oder der uns vertrauten chorischen Stimmführung wird man dabei schnell an Grenzen stoßen. Stattdessen bieten sich unterschiedliche Formen des kollektiven Teamworks an – und, neben vielen anderen möglichen Gestaltungsformen, eine uralte Organisationsform des kollektiven Singens, die in der musikwissenschaftlichen Fachsprache als „Heterophonie“ bezeichnet wird. Ein freies und zugleich aufeinander bezogenes „ungleichzeitiges Miteinander“, das sehr viel mehr Raum für stimmliche Vielfalt läßt, als die uns vertrauten Formen des metrisch synchronisierten homophonen oder polyphonen Satzes.

Und genau an dieser Stelle schließt sich der Kreis. In der praktischen Umsetzung nämlich funktionieren heterophone Formen erfahrungsgemäß deutlich besser, wenn die Singenden in großen Abständen zueinanderstehen. Heterophoner Gesang ist nicht nur inklusiv – er ist auch infektionssicher.

Ganz so abwegig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, muss es also gar nicht sein, dem vertrauten europäischen Ideal der Homogenität ein zweites, ergänzendes Ideal an die Seite zu stellen. Das Schöne dabei ist: Dieses „andere Zusammensingen“ muss noch nicht einmal neu erfunden werden. Es existiert seit Jahrtausenden – und es hat sich in jenem unbegrenzten Raum entwickelt, in dem im Verlauf der Menschheitsgeschichte der größte Teil des gesellschaftlichen Lebens stattfand: Im Freien.

Übung 3: Das Freie als Ort der Begegnung

Laden Sie, anstatt zu einem Chorkonzert, zu einem Fest „auf Abstand“ im Freien ein. Richten Sie Ihre Einladung gezielt an Menschen, die ebenfalls gerne singen, deren Musikkultur oder deren Art des Singens Ihrem eigenen Chor aber fremd ist.

Bereiten Sie einige wenige musikalische Programmpunkte vor, die zum Mitsingen einladen und auch im Freien funktionieren. Wählen Sie diese Stücke so aus, dass es nicht in erster Linie darum geht, dass Ihr Chor sich selbst präsentiert (was im Freien ja möglicherweise ohnehin nicht in der gewohnten Qualität und Differenziertheit möglich wäre), sondern legen Sie Ihren Ehrgeiz stattdessen in das Ziel einer maximalen musikalischen Gastfreundschaft und Anschlussfähigkeit, die Ihren Gästen das Mitsingen so schön und angenehm wie möglich macht.

Lassen Sie einen Teil des Programms bewusst unvorbereitet und ungeplant. Bitten Sie stattdessen Ihre Gäste um ein musikalisches Gastgeschenk in Form eines eigenen Liedes. Geben Sie zu erkennen, dass Sie die mitgebrachten Lieder gerne erlernen möchten. Dies wird nicht immer in vollem Umfang gelingen – vor allem dann, wenn Ihr Chor die musikalische oder textliche Sprache dieser Lieder nicht beherrscht. Versuchen Sie in einem solchen Fall, zumindest die erste Zeile oder den Refrain zu erlernen.

Je fremder Ihnen ein Lied ist, umso mehr sollten Sie versuchen, in der Musikkultur Ihrer Gäste zu Gast zu sein und sich auch wie ein Gast zu verhalten. Dies kann zum Beispiel bedeuten, vorübergehend die Leitung abzugeben. Freundliche Neugierde zu signalisieren. Nicht sofort alles können, wissen und verstehen zu müssen. Sich möglicherweise auf das ungewohnte Abenteuer einzulassen, Lieder nach dem Gehör zu erlernen, weil sie nicht in Notenform vorliegen.

Das Freie als Horizonterweiterung

Chorgesang besteht nicht nur aus Tönen. Chormusik transportiert auch Inhalte. Sie erzählt von Dingen, die Menschen wichtig sind und die es verdient haben, zu einer musikalischen Form überhöht zu werden.

Corona hat uns einen atemberaubend rasanten und tiefgreifenden kulturellen Wandlungsprozess beschert, den in dieser Form niemand vorhergesehen und gewollt hat. Binnen kürzester Zeit hat sich das Kultur- und Musikleben neu sortiert – und von dieser Neusortierung wird etwas bleiben. Auch über die gegenwärtige Krise hinaus werden sich die Praktiken der Planung, Produktion und Rezeption von Musik verändern – und dies wiederum wird langfristig auf kollektives Bewusstsein einwirken.

Als „global wake up call“ hat unser wissenschaftlicher Berater Michael Wallach die Pandemie bezeichnet. Für den Soziologen Hartmut Rosa hängt die rasant schnelle Ausbreitung des Virus mit unserem Drang zusammen, permanent die eigene „Weltreichweite“ auszudehnen. Und der Schriftsteller Michael Wildenhain schreibt, das Coronavirus habe „uns infizieren können, weil Menschen Säugetiere sind. Dieser Umstand ist weder ein soziales noch sonst wie geartetes Konstrukt, sondern die uns bedingende Wirklichkeit.“ Alle drei Aussagen haben gemeinsam, dass sie die Coronakrise nicht als eine von außen kommende, über uns hereinbrechende höhere Gewalt interpretieren, sondern sie mit grundlegenden Fragen unseres Selbstbildes und unserer Naturbeziehung verknüpfen und uns lehren, die Welt neu zu sehen.

Als Kulturschaffende einen solchen Umwälzungsprozess miterleben und -gestalten zu müssen und zu können, ist eine historisch einmalige Aufgabe. Unsere Branche nimmt gerne und oft für sich in Anspruch, aufgeschlossen, flexibel und veränderungsbereit zu sein. Nun, wo all dies in hohem Maße gefragt ist, scheint die Kränkung darüber, nicht systemrelevant zu sein, mitunter schwerer zu wiegen als die einzigartige Gelegenheit, in Echtzeit an einem gesamtgellschaftlichen Transformationsprozess teilhaben zu können.

Digitale Elemente können dabei eine hilfreiche Rolle spielen: Planungen per Zoom-Konferenz abzustimmen, anstatt um ihretwegen in Autos oder Flugzeuge zu steigen, ist ein Gewinn für die Umwelt und den eigenen Kalender. Eine Musikwelt aber, die während der Pandemie Zoom-Proben und virtuelle Chöre der direkten Resonanz von Mensch zu Mensch und dem infektionssicheren Singen im Freien vorzieht, sollte für einen Moment innehalten und sich fragen, was sie da eigentlich gerade tut. Ist es das, was wir wollen? Weist die Prägekraft unseres eigenen, gegenwärtigen Tuns wirklich in jene Richtung, die wir uns wünschen? Oder sollten wir unsere Energie nicht in ganz andere Dinge investieren? Wie zeitgemäß, zukunftsfähig und krisenfest ist eigentlich eine Ästhetik, die die uns umgebende und bedingende Natur zwangsläufig als Störung und Ärgernis erscheinen lässt? Eine Ästhetik, durch die die analoge Welt immer mehr zu einem Ort der Unzulänglichkeit wird, der unsere digital geschulten Sinne und Erwartungen nicht mehr zufriedenzustellen vermag? Oder eine Ästhetik, die die Verschiedenheit menschlichen Ausdrucks in einen Makel verwandelt, den es zu verstecken gilt?

„Singen im Freien“ – das kann bedeuten: Musik wenigstens in Teilen neu zu erfinden in einem freien Raum der gestaltbaren Zukunft. Einer Zukunft, die für eine kurze Zeitspanne sehr viel weniger durch Konventionen, Gewissheiten, kalendarische Handlungszwänge und Alltagsroutinen begrenzt ist, als dies sonst immer der Fall ist. Diese Zukunftmusik nicht in eine noch digitalere, abgeschirmtere, makellosere und kontrollierbarere Richtung zu lenken, sondern sie so vielstimmig und einladend wie möglich zu gestalten, könnte eine schöne Überbrückungsaufgabe für die Zeit der Pandemie sein.


Siehe auch Teil 1 und 2

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