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Tannhäuser 2021. Foto: Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Tannhäuser 2021. Foto: Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
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Musikalisch verdichtet, szenisch noch nicht abgeschlossen – „Tannhäuser“ in Bayreuth

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Im Sinne der „Werkstatt“ Bayreuth hat Tobias Kratzer an seiner Inszenierung des „Tannhäuser“, die nach dem wenig glücklichen Dirigat von Valerie Gergiev im vorletzten Jahr nun durch die musikalische Leitung von Axel Kober enorm gewonnen hat, weitergearbeitet. Kaum eine andere Inszenierung im derzeitigen Bayreuther Aufführungskanon bekennt sich so deutlich zum Revolutionär Wagner und verlängert diese Haltung bis hinein in die Gegenwart.

Modifiziert wurden auch die den gesamten Bühnenausschnitt füllenden Videoeinspielungen von Manuel Braun, in der Mischung von vorproduziertem Material und Live-Kameras. Wieder fährt der als Clown verkleidete Tannhäuser mit der jungen, flippigen Venus in einem silbernen Wohnmobil von der Wartburg durch den Thüringer Wald Richtung Bayreuth. Dabei gehört die geschlossene Biogas-Anlage – als Reminiszenz an die Vorgänger-Inszenierung – nun nicht mehr zur Fahrroute; dafür passiert der silbergraue Kastenwagen eine Covid-Teststation: nicht nur die Insassen, auch das Fahrzeug selbst wird auf Aerosole getestet und erhält danach eine entsprechende Plakette.

Die Besetzung von zwei der Venusberg-Begleiter Tannhäusers wurde verändert: nachdem im Premierenjahr Elena Zhidcova für die durch einen Bühnenunfall verhinderte Ekaterina Gubanova kurzfristig als Venus eingesprungen war, singt nun die Originalbesetzung. Und der dunkelhäutige Le Gateau Chocolat durfte aufgrund der Pandemie-Restriktionen nicht aus Großbritannien anreisen und „wird auf der Bühne vertreten durch Kyle Patrick (so der Besetzungszettel), der in diese Divers-Partie eine stärkere weibliche Komponente einbringt. Kontinuität in der Gruppe der aufmüpfigen Outlaws hingegen bietet Manni Laudenbach in der Rolle des kleinwüchsigen Oskar (Matzerath), mit Blechtrommel und auch sonst im Outfit der Grass-Verfilmung.

Wieder stehlen die mobilen Venusberg-Insassen an einer Tankstelle Benzin und lassen einen getöteten Polizisten zurück. Sie feiern an einer verlassenen „Frau Holle“-Raststätte, womit der Bezug zu der von Wagner intendierten mythologischen Kette Abendstern – Venus – Frau Holda – Frau Holle geschaffen wird. Venus agitiert mit selbst hergestellten Wagner-Plakaten und setzt eine selbst gestaltete Wagner-Visitenkarte als falsche Kreditkarte ein.

In geschickter Mischung von Film- und Live-Bühnenaktion (Ausstattung: Rainer Sellmaier) geht die Fahrt weiter. Tannhäuser springt aus dem fahrenden Wagen und wird mit Hilfe einer Radfahrenden jungen Dame (in anderen Inszenierungen der Hirtenknabe) bis vor die Front des Festspielhauses geleitet, wo sich Besucher, wie in alten Zeiten, mit ihren Programmheften zufächeln und sich dann ohne Abstand und Mundnasenschutz in die Aufführung begeben. Die – mit umgehängten Hausausweisen – ihre Pause genießenden Sänger-Kollegen Tannhäusers nehmen den ausgegliederten Heldentenor, der von Elisabeth mit einer Ohrfeige empfangen wird, wieder ins Ensemble auf.

Bereits in der Ouvertüre blieb Axel Kobers forsche musikalische Ausdeutung der zweiten Dresdener Fassung nicht hinter dem optischen Überangebot zurück. Sehr rasche, aber nicht überhastete Tempi herrschen vor, etwa auch bei Wolframs „Als du in kühnen Sange uns bestrittest“.

Am Ende des Aktes dann erste Buhrufe, gekontert mit Bravorufen und Fußtrampeln, mit welchen das Publikum versuchte, die Sänger zum Pausen-Applaus zu bewegen (wie dies am Vorabend bei „Die Meistersinger von Nürnberg“ praktiziert wurde); aber in dieser Inszenierung gibt es nach den Aktschlüssen kein Durchtreten vor den Vorhang, um alles Pro und Contra des Auditoriums für den Schlussapplaus zu konzentrieren.

Zum ersten Mal in diesem Festspielsommer war der vordem strikt abgetrennte Festspielpark zugänglich, damit – wie im Premierenjahr – in der ersten Pause ein Zwischenspiel der drei Venusberg-Aktionisten mit Wagner-Pop rund um den See stattfinden konnte. Doch auch dort musste das Publikum dem Einlasspersonal die Eintrittskarte und das farbige Einlassbändchen vorzeigen. Eine Erleichterung gab es jedoch insofern, als nicht wieder die mitgeführten Handtaschen bis zu fünfmal durchsucht wurden – denn Angela Merkel, die als Bundeskanzlerin „Der fliegende Holländer“ und als Privatperson „Die Meistersinger von Nürnberg“ besucht hatte, war nach dem zweiten Premierenabend abgereist.

Vieles wird beim wiederholten Sehen dieser Produktion klarer, gerade im zweiten Akt, wo die obere Hälfte des Bühnenportals den nun schwarzweißen Projektionen gehört, für Live-Aufnahmen aus und hinter der konventionell gestalteten Bühnendekoration des Wartburgsaales, gemischt mit vorproduzierten Filmsequenzen. Venus, Le Gateau Chocolat und Oskar erklimmen über eine Leiter den Balkon des Königsbaus und bringen dort das Transparent mit der Aufschrift „Frei im Wollen! Frei im Tun! Frei im Genießen! R.W.“ an. Anschließend überfällt und fesselt Venus die Darstellerin des zweiten Edelknaben und schlüpft in deren Kostüm, um in deren Rolle beim Sängerkrieg aufmüpfig mitzumischen, Tannhäuser zu animieren und die Wartburg-Gesellschaft zu provozieren. Tannhäuser wird handgreiflich gegen seine Sängerkollegen, die er vom Podest wirft, bis die von Katharina Wagner zu Hilfe gerufene (gespielte) Bayreuther Polizei dem Treiben ein Ende bereitet; am Ende des Sängerkrieges bedeckt Le Gateau Chocolat die zuvor von einer Solistin des Orchesters sichtbar gespielte Harfe mit einer Regenbogen-Fahne.

Lacher lösten Details im Film aus: auf dem Gang zur Kantine kommen die Eindringlinge an der Galerie der Fotos sämtlicher Bayreuther Dirigenten vorbei, und das Foto Siegfried Wagners belebt sich, um der diversen Persönlichkeit hinterher zu schauen. Das Bild Georgievs aber, der im Premierenjahr diese Produktion dirigiert hatte, muss noch auf seine Aufhängung warten (wie ein Texthinweis vermerkt). Auch der bewusst etwas versetzte, zu späte Einsatz von Ekaterina Gubanova als vermeintlichem zweiten Edelknaben bei „Wolfram von Eschenbach, beginne!“ sorgt für Lacher im Publikum, ebenso das herzhafte Gähnen der verkleideten Venus als Reaktion auf Wolframs Sentenz „sinkt die Seele ins Gebet“.

Problematisch bleibt der dritte Akt mit den Rom-Heimkehrern, die Alles, was nicht nicht niet- und nagelfest ist, mitnehmen, wobei der zugespielte Pilgerchor die Aktion glücklich übertönt. Elisabeth, die ihr festliches Übergewand an den Ast eines Baumes hängt, nachdem sie sich von Oskar mit dem gemeinsam zu Munde geführten Löffel aus dem Bunsenbrenner-Topf hat füttern lassen und ich dann bewusst mit dem in die Verkleidung Tannhäusers schlüpfenden Wolfram koitiert, wird später blutüberströmt im silbergrauen Wohnmobil gefunden.

Im Spiel der Kräfte ergreift der Regisseur eindeutig Partei für Venus und ihre beiden Mitstreiter, und um die geänderte Schlussansicht zu manifestieren, lässt er Tannhäuser den Wagnerschen Klavierauszug zerreißen und verbrennen. Zwar hält der überlebende Tannhäuser die Leiche Elisabeths in den Armen, träumt aber gleichzeitig (in der Videoprojektion) davon, seine Reise mit Venus durch das Wartburgtal fortzusetzen. Götz Friedrich war mit seiner identischen Besetzung der beiden antagonistischen Frauen Elisabeth und Venus in seiner damals ebenfalls skandalumwitterten Inszenierung des Jahres 1972 bereits am selben Punkt angekommen.

Gesungen wird an diesem Abend sehr präzise und – wohl dank des musikalischen Leiters – auch mit sehr hoher Textverständlichkeit. Lise Davidsen als Elisabeth intoniert das erste „Heinrich“ im Pianopianissimo und lässt das zweite enorm anschwellen um sich dann in die tröstenden Arme von Wolfram zu stürzen, den Markus Eiche jenseits belcantistischer Tradition als hinterhältig verschlagene Charakterrolle interpretiert.

Stephen Gould in der Titelpartie bietet mit stimmschöner Schlagkraft den Wiederkehrer Richard Wagners als Anarchisten.

Ekatarina Grubanova erfüllt im Spiel und mit vollem Stimmeinsatz die sehr spezifische Sicht auf diese mit allen Zellen ihres Körpers die ausgelebte Leidenschaft verkörpernde Göttin der Liebe.

Beim kraftvoll und fein timbrierten Gesang von Günther Groissböck, der die Partie des Landgrafen übernommen hat, ist zu ahnen, dass die Höhe der Wotan-Partie ein nachvollziehbarer Grund für die (leider arg) kurzfristig erfolgte Absage dieses Bassisten hinsichtlich des mit ihm angekündigten Wotan in der „Walküre“ in diesem Sommer, wie auch für die kommende „Ring“-Neuinszenierung, ist.

Neu in der homogen reaktionären Mannschaft der Minnesänger sind Magnus Vigilius als Walther von der Vogelweide, Olafar Sigurdarson als Biterolf. Kontinuität bieten Jorge Rodriguez-Norton als Heinrich der Schreiber und Wilhelm Schwinghammer als Reinmar von Zweter. Katharina Konradi überzeugt mit voller Stimme in der umgedeuteten Partie des jungen Hirten.

Der von Eberhard Friedrich einstudierte Chor mischt sich, elektronisch per Glasfaserkabel zugespielt, unmerklich mit den Stimmen der auf der Bühne singenden Solist*innen (wozu auch die verbleibenden drei Edelknaben Cornelia Heil, Laura Margaret Smith und Karolin Zeinert gehören).

Einen weiteren Gewinn bietet die musikalische Leitung durch Axel Kober mit seiner beschwingten, dichten und plastischen Interpretation, trefflich musiziert vom Bayreuther Festspielorchester, das Wagners ungekürzte Partitur makellos interpretiert, was um so beachtlicher ist, als alle Instrumentalist*innen mit Mundschutz zu spielen haben (natürlich mit Ausnahme der Bläser, logischerweise!).

Gegner der Produktion verübeln dem Regisseur Tobias Kratzer insbesondere den Polizisten-Mord, die Mehrzahl der Besucher*innen aber trampelte bereits nach den ersten beiden Aufzügen. Am Ende gab es lange anhaltenden Beifall mit Trampeln und Bravorufen; im Für und Wider der Meinungen über das Regieteam gewann der Zuspruch die Oberhand.

  • Die nächsten Aufführungen: 2., 5., 13., 16. und 23. August 2021.

 

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