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Eveline Drummen als Carmen, Julio Miranda als Escamillo, Daisuke Sogawa als Don José, Moe Sasaki als Micaëla. Foto: © Claudia Heysel
Eveline Drummen als Carmen, Julio Miranda als Escamillo, Daisuke Sogawa als Don José, Moe Sasaki als Micaëla. Foto: © Claudia Heysel
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Nach dem Schuss ist vor dem Schuss – Ballettabend am Theater Dessau

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Tomasz Kajdański macht aus der Carmen-Suite von Rodion Schtschedrin nach Bizets Oper und Manuel de Fallas „Der Dreispitz“ am Anhaltischen Theater Dessau einen packend unterhaltsamen Ballettabend.

In Dessau ist jede Ballettpremiere allein schon ein Erfolg, weil sie stattfindet. Das Schrumpfen dieser Sparte am Anhaltischen Theater ist eine bleibende Folge des finanziellen Einsparkurses, der von der (vorigen) Landesregierung in der Kultur brachial durchgesetzt wurde. Zum Glück hat Tomasz Kajdański (61) als Spartenchef die Nerven das auszublenden. Und als Choreograph die Phantasie, trotz allem, noch jedes Mal mit seinen Kreationen zu überraschen und sein Publikum zu begeistern. Nicht mit karger Alibi-Avantgarde, sondern mit einer eigenen Mischung aus Handlungsballett und Tanztheater. Nach dem Motto: wir haben kaum eine Chance, aber die nutzen wir! In Dessau sitzt natürlich beim jüngsten Carmen-Dreispitz Doppelabend die Anhaltische Philharmonie im Graben und GMD Markus L. Frank steht das erste Mal bei einer Arbeit von Kajdański am Pult. 

Das Gespür für die „richtige“ Musik gehört seit je zum Markenzeichen des seit vielen Jahren in Deutschland erfolgreichen Choreografen aus Polen. Mit diesem Verständnis für den inneren Zusammenhang von Musik und Bewegung findet er zu einem in sich stimmigen Ergebnis auf der Bühne. Auch, wenn ein Abend wie diesmal aus zwei Teilen besteht, die auf den ersten Blick sehr verschieden, ja fast gegensätzlich daherkommen.

Dabei (ver-)führt schon das Spiel des 1932 in Moskau geborenen Komponisten Schtschedrin mit den populären Hauptmotiven aus Bizets Carmen in die bekannte Geschichte. Er hat das Carmen-Ballett seiner Frau, der legendären Primaballerina des Bolschoi Theaters Maya Plissezkaja 1967 gleichsam auf den Leib komponiert. Bei Kajdański wird die Carmenstory eingerahmt durch den Kopfschuss, mit dem Don José sich selbst nach dem Eifersuchtsmord an Carmen tötet. Wie in mancher Inszenierung der Oper ist die Handlung, die bis dahin führt, Rückerinnerung.  

Nicole Bergmann hat dafür hinter der Tanzfläche einen imponierenden Berg aus zum Teil projizierten Stühlen aufgetürmt. Eine Skulptur, die ihre opulente Wirkung durch unterschiedliche Beleuchtung verstärkt und sich doch zurücknimmt. Auf einem freischwebenden Balken schreitet Carmen einmal demonstrativ, für den unten auf einem Stuhl gebannten José unerreichbar, entlang. Eveline Drummen spielt als Gast im Ensemble ihre Reize so selbstbewusst aus, wie sie ihr rotes Kleid trägt. Ansonsten herrscht ungezügelte Lebensfreude oder besser der Hunger danach. Carmens Spiel mit dem Feuer wird dadurch angefacht, dass sie Josés Liebe ausnutzt und dann sich doch offen dem Torero Escamillo zuwendet, der bei den Frauen nur seine Star-Aura (so wie Carmen ihre bei den Männern) ausspielen muss. Die aufrichtige Micaëla (Moe Sasaki) hat in dieser Konstellation kaum eine Chance. 

Nach der Pause: Manuel de Fallas (1867-1946) für Sergej Diaghilews Ballets Russes geschriebenes und 1919 in London in der Ausstattung von Picasso herausgekommener „Dreispitz“, dessen Originaltitel „El sombrero de tres picos“ so schön spanisch klingt. In Dessau nehmen wir die Position von Paparazzi ein und beobachten Herrn und Frau Müller in ihrer luxuriösen Ferienwohnung mit Pool und Meerblick, die gut auf Mallorca liegen könnte. Vom Exempel einer Leidenschaft, die Leiden schafft bzw. tödlich endet, gehts im Gewand einer modernen Commedia dell’arte in die Banalität von Szenen einer Ehe, in der zumindest diese Konsequenz ausfällt. Im Grunde wird das Ganze jetzt noch einmal als Farce mit lauter bunten Vögeln durchgespielt. Ohne Mord. Nur mit Intrige. In der Banalität gebändigter Bürgerlichkeit. Wenn das Pärchen Corregidor (Nicola Brockmann und Fergus Andrew Adderley) bei Müllers zum Glas Sekt, ein kecker Dandy (Daisuke Sogawa) nebst Begleitung (Johanna Raynaud) aufkreuzen und diverse Nachbarinnen dazwischenfunken und sich zwei schlagkräftige Polizisten in eine handfeste Intrige einspannen lassen, geht es rund. Hinreißend wie Anna-Maria Tasarz eine Frau Müller gibt, die wohl am liebsten Carmen wäre und Julio Miranda seinen Escamillo aus dem ersten Teil in einen Macho transformiert, der jede noch so kleine Gelegenheit für einen Flirt bei den Frauen nutzt. Gewürzt wird das Ganze noch mit dem Auftritt einer Diva (Jagna Rotkiewicz), die einen Käfig mit einem Kanarienvogel drin vorbeibringt und bei Müllers deponiert. Was man durchaus als Wink mit dem metaphorischen Zaunpfahl lesen darf. 

Das Ensemble ist mit Hingabe bei der Sache – die Interpretinnen von Carmen und Frau Müller ragen dabei deutlich heraus. Wirklich faszinierend ist die in jeder Geste den gesamten Körper erfassende geschmeidige Beweglichkeit von Daisuke Sogawa. Dieses stille Charisma der Harmonie verleiht seinem Don José eine Melancholie, die ihn über den eifersüchtigen Wüterich und seinem Dandy über die bloße Witzfigur hinaushebt. Und es entlarvt die ausgestellten Machogesten der andern.

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