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Musikalische Seelenreizung: Bo Skovhus und Simon Pauli in „Oberst Chabert“. Foto: Marcus Lieberenz im Auftrag der DEUTSCHEN OPER BERLIN
Musikalische Seelenreizung: Bo Skovhus und Simon Pauli in „Oberst Chabert“. Foto: Marcus Lieberenz im Auftrag der DEUTSCHEN OPER BERLIN
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Von Waltershausens „Oberst Chabert“ an der Deutschen Oper Berlin gefeiert

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Richard Wagner intendierte am Ende seiner Revolutionsoper „Bianca und Giuiseppe oder Die Franzosen vor Nizza“ (die schließlich von Johann Friedrich Kittl vertont wurde) die Marseillaise. Deren überwältigender Wirkung bediente er sich auch in seiner Vertonung von Heines „Die beiden Grenadiere“ beim Nahen des napoleonischen Heeres und des Kaisers. So gesehen erweist sich Hermann Wolfgang von Waltershausen (1882 – 1954) mit seiner Oper „Oberst Chabert“ musikdramatisch als Wagner-Nachfolger.

Denn immer, wenn im Libretto des Komponisten von Napoleon die Rede ist, ertönt das Thema der Marseillaise. Waltershausens lange nicht gespielte Musiktragödie in drei Aufzügen wurde an der Deutschen Oper Berlin tiefstapelnd als „Konzertante Premiere“ angekündigt, mauserte sich jedoch zu einer beachtlichen (halb-)szenischen Lösung und brachte der glücklosen Intendantin Kirsten Harms einen späten Triumph.

Der 1882 in Göttingen geborene Komponist Hermann Wolfgang Sartorius Freiherr von Waltershausen war Schüler von Ludwig Thuille. Schon 1926 war es zwischen ihm und Adolf Hitler zu einer derart heftigen Auseinandersetzung gekommen, dass dessen Absicht, ihn nach seinem Machtantritt kalt zu stellen, 1933 prompt erfolgte: Waltershausen wurde als Direktor der Münchner Akademie für Tonkunst in den Ruhestand versetzt. Mit seiner fünften, zu Lebzeiten unaufgeführten Oper „Die Gräfin von Tolosa“ beendete von Waltershausen 1936 das Komponieren und wirkte nur noch als Lehrer.

Die zweite seiner fünf Opern basiert auf Honoré de Balzacs Novelle „Comtesse à deux maris“: Der siegreiche Feldherr Chabert wird scheintot begraben, kann sich aber befreien, irrt als Bettler umher und wird in ein Narrenhaus gesteckt. Unter neuem Namen kehrt er heim, findet seine junge Gattin, mit einem Grafen verheiratet und als Mutter zweier Kinder, wieder. Sie aber will sich nicht zu ihm bekennen. Um ihr soziale Schwierigkeiten zu ersparen, widerruft Chabert schriftlich seine Identität und erschießt sich. Zu spät bekennt sich die junge Frau zu ihm und stirbt an Gift.

Die stringente, spannende Handlung für nur sechs Personen ohne Chor war geradezu prädestiniert für die Opernbühne. Waltershausen hat sein eigenes Libretto in eine packend stringente, symphonische Musiksprache für großes Orchester getaucht, welches aber das Parlando der Singstimmen nie zudeckt: eine individuelle Spätromantik, mit Leitmotivik und geschärften Dissonanzen, an der Schwelle zur Moderne, aber diesseits der Tonalität. Wie bei so mancher Partitur aus dem frühen 20. Jahrhundert hört man auch in dieser Partitur einiges, was einem bereits von Richard Strauss bekannt scheint, was sich aber bei der Nachprüfung als originär erweist, da es vom heute bekannteren Komponisten erst später niedergeschrieben wurde.

Im Gegensatz zu Balzac lenkt Waltershausen den Blick vom Leid seines Titelhelden im dritten Akt auch verstärkt auf das von dessen junger Gattin und Schein-Witwe. Die Enthüllung der Wahrheit – mit Advokat und Schreiber – ist spannend aufgebaut und bleibt es bis zum Ende. Der triumphalen Uraufführung im Jahre 1912 in Frankfurt folgten international an die 100 weitere Inszenierungen dieser Oper. Allerdings wurde die Rezeption des „Oberst Chabert“durch den zwei Jahre später einsetzenden Ersten Weltkrieg national wie international erschwert, weiter verschärft dann im Dritten Reich und fortdauernd nach dem zweiten Weltkrieg, – obgleich dessen Spätheimkehrer der Handlung dieser Oper neue Aktualität bescherten.

Waltershausens auf „Seelenreizung“ abzielende Musik schafft einen historischen Krimi für die Opernbühne. Und so rückte ihn denn auch die szenische Umsetzung an der Deutschen Oper Berlin mit filmischen Mitteln ins Bild. Vorproduzierte Filme von Schlachtfeld und Winterlandschaft werden überblendet mit Detailaufnahmen des Bühnengeschehens und der ausdrucksstarken Mimik der Protagonisten (Spielleitung: Sören Schuhmacher). In der Schwarzweißästhetik mit unterschiedlichen Graustufen (Szenische Einrichtung: Bernd Damovsky) stören einzig die braunen (!) Notenpulte.

Geradezu kriminalistisch enthüllt sich das Psychogramm der jungen Gräfin, die ihren ersten Gatten sofort erkennt, aber dessen Identität leugnet, da sie sich an den Luxus gewöhnt hat. Manuela Uhl als Gräfin Rosine vermag mit intensiven Regungen durchaus zu faszinieren, so dass man hier ihre stimmlichen Schärfen und Unsauberkeiten im Sinne des Psychogramms leichter in Kauf nimmt. Raymond Very als ihr gräflicher Gatte Ferraud wird dem Bild des strahlend jugendlichen Gegenspielers zu Chabert stimmlich nicht voll gerecht, vermag aber als einziger Sängerdarsteller gänzlich auf die Noten zu verzichten. Großartig in Stimme und Darstellung der Bassist Stephen Bronk als Chaberts getreuer ehemaliger Korporal Godeschal. Beachtlich auch Simon Pauly als Advokat Derville und Paul Kaufmann als dessen Schreiber Boucard.

Die Titelpartie erfüllt Bo Skovhus mit faszinierender Gestaltungskraft und warmem Tonfluss, mitreißend in seinem Leiden, seiner Hoffnung und Verzweiflung. Klangliche Psycho-Motorik schafft Jacques Lacombe mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin, strahlend in der Umsetzung der horizontalen Spannung von Waltershausens Partitur.

Bravorufe des Publikums, schon nach den Aktabschlüssen der pausenlosen Aufführung, münden am Ende in eine uneingeschränkte Begeisterung für das Werk und seine Umsetzung. Bedauerlich und kaum verständlich hingegen, dass diese Produktion nur zweimal gespielt wird; immerhin wird es eine Rundfunkübertragung und dann wohl auch eine CD davon geben.

Weitere Aufführung: 28. März 2010.
Ausstrahlung in Deutschlandradio Kultur am 17. April 2010.

Foto: Marcus Lieberenz im Auftrag der DEUTSCHEN OPER BERLIN

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