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Abstrakte Landschaft mit einsamem Mensch. Foto: Hufner
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Performativ ausgebremst: Camerata Temporalis debütiert als Konzertensemble in Weimar

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Einen ausgeprägten Eigenklang hat das bisherige Ad-hoc-Orchester Camerata Temporalis, das erst im Oktober 2019 bei der Uraufführung der Oper „Die Wahrheitsschwestern“, der Diplomarbeit des brasilianischen Komponisten Giordano Bruno do Nascimento an der Weimarer Hochschule für Musik Franz Liszt, mitwirkte. Dessen Idee eines Spezialklangkörpers für Alte und Zeitgenössische Musik wäre durchaus geeignet, die in Spezialisten-Sektionen auseinander strebenden Szenen der historisch informierten und weitaus selteneren Aufführungspraxis für Neue Musik in Thüringen um ein vitales Element zu ergänzen. Beim Antrittskonzert im Weimarer Jugendzentrum Mon Ami am 18. Dezember erwiesen sich die Ansprüche von Camerata Temporalis als sehr hoch.

Leidtragend war vor allem die Musik mit Uraufführungen von Johannes K. Hildebrandt, Acácio Piedade und Simon Knighton in Kammerbesetzung. Das nächste Konzert von Camerata Temporalis findet in Arnstadt statt. Große Versuchung: ‚Normale‘ Konzertformate dünken Kreativen zu wenig, werden also aufbereitet mit Licht, performativen Interventionen und philosophischen Abgründigkeiten. Bisher war das der Nennform nach 26-köpfige Ensemble Camerata Temporalis mit jungen Musiker*innen aus dem Umfeld der Weimarer Hochschule für Musik Franz Liszt vor allem ein ad-hoc-Klangkörper für die beachtliche Serie der Opern-Uraufführungen von Giordano Bruno di Nascimento. Das Debüt als Konzertorchester klappte im Weimarer Jugendzentrum Mon Ami auf der musikalischen Seite gut: Ein warmer und transparenter Klang mit Gespür für Phrasierungen und dynamische Abstufungen von mitdenkenden Musikern. Die Neugier auf die erklingenden Werke spürt man, selbst wenn bei Stücken wie Entrée de Polymnie aus Rameaus „Les Boréades“ und Quantz' Konzert in g-moll für zwei Flöten QV 6-8 die Auseinandersetzung mit historischen Spieltechniken nicht das primäre Anliegen von Camerata Temporalis zu sein scheint. Umso schwerwiegender wirkte, dass für die Programmfolge außermusikalische Beweggründe wichtiger wurden als die Gegenüberstellung der neuen und alten Stücke. Informationen zu den Werken gab es weder auf dem Programmzettel noch in erläuternden Zwischentexten. Stattdessen unterbrachen performative Interventionen, in denen ein Reagieren auf Ermüdungserscheinungen im etwa halbvollen Saal nicht vorgesehen waren, den musikalischen Ablauf bis zu lähmender Starre.

„Also sprach... das Plastik.“: Carina Heidl umwickelt die Beine einzelner Musiker und Zuschauer mit einem langen Plastikkabel von der Trommel. Ist das eine stille Philippika gegen radikale Umweltverschmutzung, Klimawandel und Ressourcenverschwendung? Zwischen der musikalischen Leistung, bei der man dem vor allem bei den neuen Stücken ans Pult tretenden Komponisten Giordano Bruno do Nascimento keineswegs autoritäres Gebaren vorwerfen kann, und der Performance liegen Abgründe. Die Aussage erhält andere Wirkungsakzente als geplant: Monotonie statt innerer Spannung, Lethargie statt Betroffenheit. Von einer mitdenkenden musikwissenschaftlichen Begleitung (Eszter Johanna Barta) war nichts zu merken.

Johannes K. Hildebrandt, Mitglied im Vorstand des Deutschen Komponistenverbands, bezieht den Titel „Vier und einer“ auf die Besetzung mit Streichern: Ein sangliches und dabei fragmentiertes einsätziges Tongebilde. Acácio Piedade erforscht Verbindungen zwischen Komposition und kultureller Grundlage. Sein „Lamento in G“ spielt um den Ton G, der für „Geographie“ und ökologische Ressourcen steht. Simon Knighton reiht stereophone akustische Wirkungen durch die Aufstellung des kleinen Orchesters, bis sein Thema letztmalig im Cembalo erscheint und mit dessen Solo das Konzert endet.

Freie tonale Ausrichtung in esoterischer Verpackung und starkes Engagement außerhalb der institutionalisierten Säulen Staatskapelle bzw. Deutsches Nationaltheater und Hochschule. Dafür gibt es in Weimar eine kleine, engagierte Anhängerschaft und auch künstlerisches Potenzial. In der Regel sind programmatische Kinderkrankheiten nicht von langer Dauer: Eigentlich stimmt die Mischung bei Camerata Temporalis, wenn das Publikum beim nächsten Konzert die Möglichkeit erhalten wird, sich mit den gedanklichen Hintergrund der zeitgenössischen Werke auseinanderzusetzen und in der Programmfolge Neue und Alte Musik tatsächlich in ein dialogisches Spannungsfeld treten können. 

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