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Orestes | Ilia Papandreou, Kakhaber Shavidze, Kinderstatistin, Laura Nielsen, Elsa Roux Chamoux, Ks. Jörg Rathmann. Foto: Lutz Edelhoff.
Orestes | Ilia Papandreou, Kakhaber Shavidze, Kinderstatistin, Laura Nielsen, Elsa Roux Chamoux, Ks. Jörg Rathmann. Foto: Lutz Edelhoff.
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Plädoyer: Erfurt entdeckt Felix Weingartners „Orestes“

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Am Ende gibt die Göttin Pallas Athene mit ihrer Stimme den Ausschlag für eine Vernunftentscheidung und durchbricht damit die aus dem Atridenfluch erwachsene Kette von Morden und Verbrechen. Auf Schuld folgt also Sühne. Und Felix Weingartner folgte Richard Wagners Theorie. Er schuf mit „Orestes“ ein dreistündiges Musikdrama (Uraufführung: Leipzig 1902). Das Theater Erfurt setzte dieses als letzte Neuproduktion in seine mit Richard Strauss’„Elektra“ begonnene „Griechische (Musiktheater-)Spielzeit“.

Als Finale seiner „Griechischen (Musiktheater-)Spielzeit“ widmete sich das Theater Erfurt einer Entdeckung: Felix Weingartners Trilogie „Orestes“ ging nach der Uraufführung 1902 in Leipzig und jahrelanger Entstehung über große deutsche Bühnen: Berlin, Stuttgart, München und andere. Doch dann setzte Richard Strauss eins drauf. Mit den Einaktern „Salome“ und „Elektra“ trieb dieser das um 1900 in ganz Europa reaktivierte Genre der Antike-Oper Richtung expressive Moderne. Weingartners vierte Oper „Orestes“ verlor auch deshalb an Repertoire-Terrain. In Erfurt bereichert sie jetzt das Kenntnisspektrum über das Musiktheater Oper um 1900 beträchtlich.

Die Musik des von Berlin bis Wien erfolgreichen Dirigenten und Komponisten Felix Weingartner (1863 bis 1942) zeichnet sich durch große Farbigkeit aus. In „Orestes“ steckt am Ende sogar eine positive Utopie wie in Wagners „Ring des Nibelungen“: Die Göttin Pallas Athene gibt bei der Abstimmung mit den Bürgern Athens mit ihrer Stimme den mehrheitlichen Ausschlag, dass der durch den Atridenfluch zum Muttermörder gewordene Orestes Versöhnung und Gnade findet. In Weingartners drei Teilen „Agamemnon“, „Das Todtenopfer“ und „Die Erinyen“ vollzieht sich zudem ein musikalischer Paradigmenwechsel.

Intendant Guy Montavon erzählt den von Aischylos zu einer der ersten attischen Tragödien-Trilogien gemachten Mythos und das Weingartner-Opus in seiner Regie sehr geradlinig. Eine konzeptionelle Positionierung entsteht vor allem durch die farbkräftige wie ironische Ausstattung von Hank Irwin Kittel. Dass es bei Weingartner ordentlich wagnert, darf man auch sehen. Die breite, hohe und helle Rahmenröhre erinnert untrüglich an Peter Sykoras und Götz’ Friedrichs legendären „Zeittunnel-Ring“, der an der Deutschen Oper Berlin bis vor wenigen Jahren im Repertoire war. Für Kassandra und Elektra, denen Berlioz bzw. Strauss in ihren revolutionären Partituren ein hochdramatisches Fluidum geben, fällt Montavon wenig ein, auch weil Weingartners Musik bei diesen Figuren dezent schwächelt. Daniela Gerstenmeyer als Elektra ist ein recht braver Charakter. Laura Nielsen erhielt als Kassandra immerhin eine große Soloszene, mit der sie im ersten Teil etwas am dominanten Gewicht Klytämnestras sägt. Elsa Roux Chamoux als Haushofmeistern Kilissa hat einen kurzen, straffen Volleinsatz.

Die Furien- bzw. Erin(n)yen- und Unterweltszene zu Beginn des dritten Teils fetzt auch szenisch heftig. Auf einer Sammelstelle für Alttextilien geifern und ereifern sich die Rachegöttinnen unter knallroten Pumuckl-Perücken. Schön die Outfits mit Referenzen an Ikonen des 20. Jahrhunderts: Die frühere Erfurter Erfolge rasant und expressiv fortsetzende Ilia Papandreou ähnelt – passend zu ihrem dunklen Timbre und starker Durchschlagskraft – an Maria Callas in Pasolinis „Medea“-Film. Candela Gotelli als Pallas Athene erscheint mit Nana-Mouskouri-Brille im weißen Kostüm wie zum Gala-Auftritt mit „Weiße Rosen aus Athen“. Bei Shavidze Kakhabers Agamemnon hört man Kriegstrauma und autoritäre Wucht aus der Stimme. Auch Siyabulela Ntlale als schroffer Mörder Ägistos treibt aus einem italoamerikanischen Mafioso-Epos ins gar nicht so edle Musikdrama. Brett Sprague mit eigentlich idealem lyrischem Tenor und Konditionsreserven bleibt bis Ende aus der Attitüde des Netten Jungen von Nebenan nicht so recht heraus.

Dass viele Erfurter Ensemble-Mitglieder mehrere Stimmfächer abdecken, bewährt sich auch hier. „Orestes“ ist eine der Produktionen, in der das Philharmonische Orchester Erfurt die Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach bei sich zu Gast im Graben hat. Alexander Prior zelebriert und durchwirbelt in einem melodiösen, fast kulinarischen Gestus Weingartners sehr ariose, nur selten strikt rezitativische Komposition. In den Chorszenen steigert diese sich zu oratorienhafter Dichte. Markus Baisch holt mit dem Opernchor, der hier nach „Le siège de Corinth“ in der „Griechischen Spielzeit“ seine nächste große bis großartige Aufgabe hat, deutlich die dramatischen Setzungen heraus. In Weingartners Einrichtung sind Reflexe von Johann Jakob Bachofens Intellektuellen-Bibel „Das Mutterrecht“ wahrnehmbar. Der Übergang von Orestes’ Besessenheit durch die Erinnyen zu einer männlich geordneten Rechtsprechung beinhaltet auch eine Deutung des Mythos und von Aischylos’ „Orestie“ als ideologische Transformation vom Matriarchat zum Patriarchat.

„Orestes“ ist bei dieser ersten Aufführung seit über hundert Jahren ein Spiegel des musikdramatischen Aufbruchs um 1900 auf meisterhaftem Gestaltungsniveau. Ein Werk des Übergangs in Analogie zum literarischen Genre des historischen Professorenromans: Gebildet, mit anspruchsvoller Dramaturgie und musikalisch auf ganz hohem Kenntnisstand des intellektuellen Klimas und Zeitgeistes seit 1880. Und ein Meisterstück der Instrumentation, das sich neben den ambitionierten bis genialen Klangrevolten von Strauss, Schreker und Co. nicht zu verstecken braucht. Man sollte es nach „Orestes“ und „Die Dorfschule“ an der Deutschen Oper Berlin (2012) bald mit einer anderen Weingartner-Oper versuchen.

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