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„Der große Wohltäter“ is watching you: Anton Lubchenkos Samjatin-Adaption „Wir“ am Theater Regensburg. Foto: Martin Sigmund
„Der große Wohltäter“ is watching you: Anton Lubchenkos Samjatin-Adaption „Wir“ am Theater Regensburg. Foto: Martin Sigmund
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Politisch brisant, ästhetisch fragwürdig: In Regensburg wurde „Wir“ von Anton Lubchenko uraufgeführt

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Begleitet von großem Medienecho ist die Uraufführung der Samjatin-Adaption „Wir“ des russisch-ukrainischen Komponisten Anton Lubchenko am Theater Regensburg über die Bühne gegangen. Juan Martin Koch berichtet von einer Premiere, deren Verschiebung das Werk plötzlich ins Zentrum des weltpolitischen Geschehens rückte.

Ein russischer Komponist, der auch die ukrainische Staatsbürgerschaft hat, vertont Jewgeni Samjatins in der Sowjetunion verbotene Dystopie „Wir“ von 1920: Die pandemiebedingte Verschiebung von Ende Januar auf Mitte März hat der Uraufführungsproduktion des Theaters Regensburg eine schmerzliche Brisanz verliehen. Entsprechend groß war das überregionale Interesse, inklusive eines Fernsehbeitrags in der 3sat-Kulturzeit. Dort äußerte sich Komponist Anton Lubchenko eher vage zum Krieg gegen die Ukraine, hatte zuvor aber gegenüber der Mittelbayerischen Zeitung klar Position bezogen: Von einer „Aggression, die durch nichts, durch keine politischen Begründungen gerechtfertigt werden kann“, hatte er da gesprochen und von einem „Krieg“, der „von wahnsinnigen Kriminellen“ entfesselt und geführt werde.

Eine ähnlich klare Kante hätte man sich auch musikalisch-ästhetisch gewünscht, ohne dass nach Lubchenkos ziemlich unsäglicher Schiwago-Oper von 2015 große Hoffnung bestanden hätte (siehe nmz Online vom 25.1.2015). „Eine musikalische Farce“ – so die Gattungsbezeichnung – hat Lubchenko aus der Vorlage machen wollen. Herausgekommen ist eine zwischen Mussorgsky- und Schostakowitsch-Anklängen, Neoromantik, Musical, Operette und Estrada-Schlager eher notdürftig changierende Mixtur. Samjatins seziermesserscharfer Protokollstil, unter dessen Oberfläche die Ungeheuerlichkeiten eines das Individuum zu Nummern auslöschenden Einheitsstaates ebenso lauern wie subtile Zwischentöne bis hin zu Gogol’scher Sarkastik, mutiert unter Lubchenkos Planierraupe zu plakativer Illustration. Insbesondere die musikalische Charakterisierung der Hauptfigur, des zunächst systemtreuen Ingenieurs D-503, misslingt gründlich, da Lubchenko seine aufkeimenden Seelen- und Fantasieregungen nicht in eine Veränderung der vokalen Gestaltung umzuformen versteht.

Diese werden von der verführerischen Dissidentin I-330 ausgelöst. Deren Sphäre versucht Lubchenko in überbordendem Popstil zu charakterisieren, im Schlussgesang der zum Tode Verurteilten überdies in Worten der großen Dichterin Marina Zwetajewa – eine geschmacklich zweifelhafte Kombination. Überzeugend getroffen ist immerhin „Der große Wohltäter“: Der alljährlich per einstimmiger Akklamation wiederzuwählende Diktator ist mit dem Sopranisten Onur Abaci treffend besetzt und strahlt in einer späten Szene seine gefährliche Unberechenbarkeit durch permanenten Stilwandel aus.

Im Prolog kommt seine ätherische Stimme noch vom Band, und die Musik schillert passend zwischen herber Bedrohlichkeit und anziehenden Oberflächenreizen. Das Gesicht des „Big Brother“ (George Orwell ist einer von vielen Samjatin-Inspirierten) wird dazu doppelt und riesenhaft auf die Bühne projiziert, und auch im weiteren Verlauf schaffen die Videoprojektionen (Jonas Dahl) visuell eindrückliche Zusatzdimensionen zum drehbaren, steril-weißen Bühnenaufbau.

Christina Schmidt und Maximilian Eisenacher, die nach Absprung des ursprünglich vorgesehenen Regisseurs die Inszenierung in kurzer Zeit konzipieren und umsetzen mussten, stellen den Stoff zweckdienlich und effektsicher auf die Bühne. Ob die Umsetzung des Staatslogos in eine allgegenwärtige, zweihändige Grußgeste (schon vor dem 24. Februar konzipiert) nun absichtsvoll in Richtung eines vielsagenden „Z“ tendierte, war am Premierenabend nicht zu eruieren.

Der musikalischen Umsetzung war anzumerken, dass es nach der erzwungenen Probenpause schnell gehen musste. Bei der Koordination der live von außerhalb des Grabens zugespielten Schlaginstrumente mit Restorchester und Bühne wackelte es mitunter gewaltig. Das Philharmonische Orchester packte unter der Leitung von Tom Woods – der Partitur durchaus angemessen – eher das grobe Besteck aus.

Hervorragend war die Leistung von Chor und Ensemble. Insbesondere Gesche Geier brillierte als I-330 in sämtlichen Stil-, Gefühls- und Höhenlagen; Igor Onishchencko (D-503), Yulia Kuchina-Patricello (O-90) und John Pumphrey (R-13) meisterten ihre ebenso anspruchsvollen wie vokal dankbaren Rollen souverän.

Der ukrainische Bassist Roman-Ruslan Soltys, der als Wahlleiter einen eher ungelenk komponierten Rap souverän servierte, kam ebenso wie Komponist Lubchenko mit ukrainischer Fahne zum Schlussapplaus. Dass hier die Co-Librettistin Darya Panteleeva fehlte, weil sie nach der Teilnahme an einer Moskauer Anti-Kriegsdemonstration verhaftet worden war, machte die Aktualität dieser Produktion auf erschütternde Weise deutlich.

Dem Regensburger Theater ist damit also zweifellos ein Coup gelungen, wenn auch mit einem eher fragwürdigen Stück Musiktheater, das lautstark Antworten parat zu haben vorgibt, wo drängendste Fragen zu stellen wären.

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