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GMD Hermann Bäumer und DMV-Präsident Axel Sikorski bei der Preisverleihung im Rahmen des 6. Sinfoniekonzertes am 26.4.2019. Foto: Andreas Orban
GMD Hermann Bäumer und DMV-Präsident Axel Sikorski bei der Preisverleihung im Rahmen des 6. Sinfoniekonzertes am 26.4.2019. Foto: Andreas Orban
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Preisgekrönt: Das Philharmonische Staatsorchester Mainz

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Das Philharmonische Staatsorchester Mainz hat vom Deutschen Musikverlegerverband den Preis für das beste Programm der Spielzeit 2018/19 erhalten. Andreas Hauff hat ein Konzert aus der Reihe „Auf Wiederhören!? … reingehört und kommentiert – Musik der Gegenwart“ besucht. Wolfgang Rihm, Detlef Glanert und Rolf Riehm treffen aufeinander und einer „gewinnt“ ein Wiederhören. Aber wer?

„Bitte ankreuzen, aber nicht kumulieren oder panaschieren,“ scherzt Moderatorin Sabine Fallenstein im Kleinen Haus des Mainzer Staatstheaters. Nicht lange nach den Europa- und Kommunalwahlen und kurz vor dem mancherorts notwendigen zweiten Wahlgang sitzen die Mainzer erneut vor einem Wahlzettel. Beim traditionellen jährlichen Sonderkonzert „Auf Wiederhören!? … reingehört und kommentiert – Musik der Gegenwart“ stellt nämlich das Philharmonische Staatsorchester Mainz unter GMD Hermann Bäumer drei moderne Stücke vor, von denen das Publikum dann eines in die Sinfoniekonzerte der kommenden Saison wählt. Das besonderes Konzertformat war im April mit ein Grund für den Deutschen Musikverlegerverband, das Mainzer Orchester mit dem Preis für das beste Programm der Spielzeit 2018/19 auszuzeichnen.

Unter dem Blickwinkel der Aktualität ist der erste Kandidat des Abends schon ein wenig betagt: Wolfgang Rihm (Jg. 1952) hat „Dunkles Spiel“ schon 1988-1990 im Auftrag der Paul-Sacher-Stiftung geschrieben. Doch schon die Art, wie sich die 20-Personen-Besetzung aus dem Orchester auf der Bühne platziert, wirkt außergewöhnlich. Links und rechts auf der Seite sitzen jeweils zwei Schlagzeuger mit Großer Trommel, Conga und Bongos. Im Vordergrund sehen wir Harfe und Klavier: dahinter sitzen eine kleine Streicherbesetzung ohne Violinen und eine basslastige Bläsergruppe aus Bassklarinette, Kontrafagott, Horn und Posaune. „Dunkles Spiel“ bedeutet also zunächst einmal dunkle Instrumentalfarben. Darüber hinaus entsteht aber, je mehr die Musik sich verdichtet und die Schlagzeuger afrikanisch anmutende Rhythmen spielen, im Lauf von 15 Minuten auch eine Aura des Geheimnisvollen, die den Hörern zunehmend gefangen nimmt.

GMD Bäumer hat sichtlich Gefallen an dem Stück; fast möchte man von leichter Wahlkampfhilfe sprechen. Er lässt einzelne Instrumentalisten ihre Spieltechniken demonstrieren. Die Große Trommel etwa wird auf indirekte Weise besonders dumpf angeschlagen – mit einem kleinen Schlägel, der auf einem großen aufliegt. Die Streicher spielen im Flageolett und mit Ricochet. Für die Harfe ist ein Bisbigliando auf der G-Saite vorgeschrieben – ein Tremolo-Effekt, der eigentlich mit zwei gleichgestimmten Saiten vollführt wird, aber hier auf einer Saite funktionieren muss. Im Zuschauerraum bewegt sich Orchesterdirektor Wolfram Schätz mit einem Mikrofon durch die Reihen. Aus dem Publikum geht ans Orchester die Frage, mit welcher Einstellung man dort an eine solche Musik herangeht, „die nicht so tonal ist wie wir das normalerweise gewohnt sind“. Soloposaunist Felix Degenhardt zeigt sich offen: Er studiere erst die Noten, und warte dann ab, wie sich das Stück in den Proben und in der Aufführung entwickle; „der persönliche Geschmack kommt zum Schluss.“ Fagottistin Susanne Zimmermann bekennt sich zu ihrem anfänglichen Misstrauen, doch am Ende sei sie begeistert aus den Proben gekommen. Auf die Frage nach dem Probeaufwand berichtet Bäumer von der Überraschung, nicht aus einer gedruckten, sondern einer mühsamer zu lesenden Faksimile-Ausgabe dirigieren zu müssen. Er fragt das Publikum nach Assoziationen zum Titel: Tanz, Trance, Rituale, Groove sind hier keine unerwarteten Antworten.

Einen etwas schwereren Stand hat danach das jüngste Stück des Abends. Detlev Glanert (Jg. 1960) schrieb „Weites Land“ 2013 als Auftragswerk für das Oldenburgische Staatstheater. Das 11-Minuten-Stück für normale sinfonische Besetzung trägt den Untertitel „Musik mit Brahms“ und wurde bei der Uraufführung 2014 bewusst mit Johannes Brahms‘ Vierter Sinfonie kombiniert. Dezent und bruchstückhaft scheint bei Glanert nämlich am Anfang zwischen dem leisen Gewimmel und Gewusel der Violinen und den aufkommenden Bläser-Einsätzen der Beginn eben dieser Brahms-Sinfonie hervor. „Musik mit Brahms“ bedeutet für den Komponisten aber keine Übermalung oder komponierte Interpretation der Vorlage, sondern ein motivisch genaues Komponieren mit deren Haltungen und Gesten, und „Weites Land“ ist außerdem eine Hommage an die weite norddeutsche Landschaft, die sowohl Brahms als auch Glanert als gebürtigen Hamburgern vertraut war. Mehrere Hörer fühlen sich hier an Filmmusik erinnert, einer spricht von einem „Roman mit zwei Strängen“. Aus dem Orchester heißt es: „Relativ zivilisiert im Verhältnis zu dem, was wir schon gespielt haben.“ Posaunist Degenhardt begrüßt eine generelle Tendenz zu einer klanglich opulenteren, zugänglicheren und stärker tonalen Schreibweise, erntet aber auch Widerspruch aus dem Zuschauerraum. Dieses Stück sei „nicht Fisch, nicht Fleisch“, es bringe keine neuen Hörerfahrungen. Der GMD fühlt sich des Öfteren an Richard Strauss erinnert und stört sich am Untertitel, der die Wahrnehmung in Richtung Brahms verenge. Einzelne Klangwirkungen demonstriert er diesmal nicht und erwähnt auch nicht, dass „Weites Land“ wunderbar ins 3. Sinfoniekonzert der kommenden Saison passen könnte – genau zwischen Brahms‘ Violinkonzert und zweitem Klavierkonzert nämlich.

Gleich drei Assoziationen im Titel transportiert das Stück nach der Pause, „Nuages immortels oder Focusing on Solos (Medea in Avignon)“ aus dem Jahr 2001 von Rolf Riehm (Jg. 1937). Es ist geschrieben für eine sinfonische Besetzung, die durch starkes Schlagwerk, Piccoloflöte, Englischhorn, Bassklarinette und Kontrafagott ihre besondere Färbung enthält. Etwa 22 Minuten lang wechseln akkordische Blöcke mit eher melodischen Solopassagen. „Ein bisschen langweilig, sehr statisch“, sagt ein Zuhörer. „War ich in einem anderen Konzert? Ich finde es unheimlich dramatisch!“ kommt im nächsten Moment der Widerspruch. Hartmut Bäumer möchte das Statische näher untersuchen und gelangt anhand von drei Partiturausschnitten zum scheinbar paradoxen Begriff der „stehenden Bewegung“, bei der etwa die Akkordstruktur bleibt, aber die Dynamik wechselt. Zu den überraschenden Erkenntnissen bei genauerer Betrachtung zählt auch, dass der c-moll-Quart-Sextakkord eine zentrale Rolle spielt, ohne dass man ihn wirklich als solchen wahrnimmt, und dass die Musik das altgriechische Seikilos-Lied zitiert. Moderatorin Fallenstein deutet weitere Erzählstränge an, die sich im Titel des Werkes verbergen und berichtet von einer Vielzahl exakt beschriebener Spielanweisungen. „Ich könnte Ihnen eine Viertelstunde Text vorlesen.“ Dazu kommt es dann doch nicht mehr, die Zeit schreitet fort.

Auffällig ist, dass unter den gut 60 Zuhörern die ältere Generation deutlich überwiegt. Junge Leute fehlen hier fast völlig, obwohl das Angebot freien Eintritts für Studierende bei den regulären Sinfoniekonzerten durchaus genutzt wird und sich die Konzerte für Junge Leute und die Kinderkonzerte großer Beliebtheit erfreuen. Gekommen ist hier eher das traditionelle Abonnentenpublikum, das sich schon zu Zeiten von Catherine Rückwardt, Bäumers Vorgängerin im Amt, an ungewöhnliche Konzertprogramme gewöhnt hat und über die Jahre kräftig an Aufgeschlossenheit gewonnen hat. Mit Recht würdigt der Deutsche Musikverlegerverband „die kluge Programmgestaltung der Sinfoniekonzerte: Dort werden klassische Meisterwerke ebenso zu Gehör gebracht wie Erstaufführungen und überraschenden Neuentdeckungen.“

Rückblick

Blicken wir kurz auf die vergangene Saison zurück. Das 4. Sinfoniekonzert kombinierte mit Sergej Rachmaninows 3. Sinfonie, Sergej Prokofjews Kantate „Alexander Newski“ und Toru Takemitsus „Archipelago“ gleich drei Raritäten, von denen die letzte aus dem vorigen Sonderkonzert „Auf Wiederhören“ stammte. Im Oktober schon spielte der Pianist Tzimon Barto (unter anderem) Schumanns „Geistervariationen“ und das Staatsorchester die auf diesem Werk beruhenden „Sieben Fragmente für Orchester“ von Aribert Reimann. Im Schatten aktueller politischer Verwerfungen dirigierte Gastdirigent Christoph Altstaedt im Februar ein rein britisches Programm mit George Butterworths Rhapsodie „A Shropshire Lad“, Ralph Vaughan Williams‘ Sinfonie Nr. 5 und James Macmillans Konzert für Viola und Orchester. Als bitter-ironische Zugabe gab Bratschen-Solist Lawrence Power damals Aleksej Igudesmans halsbrecherische „Brexit-Polka“ zum Besten.

Vorschau

In der kommenden Saison gibt es ab dem Jahreswechsel viel Beethoven in unterschiedlichem Kontext. Das erste Klavierkonzert erklingt zusammen mit Witold Lutosławskis Sinfonie Nr. 3, das dritte im Rahmen eines Komponistenporträts Fazil Say. Das Violinkonzert wird kombiniert mit Josef Suks Sinfonischer Dichtung „Ein Sommermärchen“, die 2. Sinfonie mit zwei Werken der vergessenen Beethoven-Zeitgenossen Anton Eberl und Franz Clement, die C-Dur-Messe im Dom schließlich mit Francis Poulencs „Gloria“. In „Beethoven. Eine biographische Collage“, einem gemeinsamen spartenübergreifenden Projekt des Theaters, wollen schließlich Hausregisseur Jan-Christoph Gockel, GMD Bäumer und der Puppenbauer Michael Pietsch den berühmten Komponisten „von seinem Sockel steigen lassen“.

Auch bei „Auf Wiederhören“ wird die Musik vom Sockel philharmonischer Unnahbarkeit geholt. Nach zweieinhalb Stunden Klangerkundung bekommt das Publikum die Stimmzettel in die Hand. Auch einige Orchestermusiker lassen sich einen geben. Eine Viertelstunde später verkündet Orchesterdirektor Schätz im Foyer das Ergebnis: 29 Stimmen für Rihm, 19 für Glanert, und 20 für Riehm. „Dunkles Spiel“ wird sich also zu den beiden Brahms-Konzerten des 4. Sinfoniekonzertes gesellen. Wer will, darf noch zum Nachgespräch bei einem Glas Wein bleiben.

GMD Hermann Bäumer und DMV-Präsident Axel Sikorski bei der Preisverleihung im Rahmen des 6. Sinfoniekonzertes am 26.4.2019. Foto: Andreas Orban

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