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Eckhard Otto, Statisterie des Theater Basel, Cristina Pasaroiu. Foto: © Priska Ketterer
Eckhard Otto, Statisterie des Theater Basel, Cristina Pasaroiu. Foto: © Priska Ketterer
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Raum und Zeit geöffnet: Giacomo Puccinis „La Bohème“ am Theater Basel

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„Your luxury is our displacement“ – euer Luxus bedeutet unsere Vertreibung – ist an die raue, unverputzte Wand gesprayt. Gestapelte Autoreifen dienen als Sitzgelegenheit. Das Feuer brennt in einer Öltonne. Regisseur Daniel Kramer möchte die rührselige Geschichte aus dem Paris des 19. Jahrhunderts in die Gegenwart holen. Deshalb leben die Protagonisten von Giacomo Puccinis Oper „La Bohème“ am Theater Basel nicht in einer heimeligen Künstlermansarde, sondern hausen auf der Straße.

Mimì leidet in Basel nicht an Tuberkulose, sondern laut Programmheftinterview an Brustkrebs. Vor dem Beginn der Oper lässt Kramer einen Hip-Hop-Mix über den Ghettoblaster laufen, der Motive der  Orchestereinleitung mit fetten Beats sampelt (Marius de Vries, Ben de Vries). Damit sorgt er nicht nur für einen kruden Stilmix, sondern verschenkt auch den markanten Orchesterbeginn, der mit den atemlosen Achteln im Fortissimo sofort ins Geschehen führt.

Dirigentin Kristiina Poska lässt sich davon nicht beirren. Die blitzschnellen Wechsel zwischen munterem Geplapper und großem Pathos, zwischen Eleganz und Ruppigkeit gelingen dem Sinfonieorchester Basel unter ihrer Leitung punktgenau. Und wenn mit dem Auftitt Mimìs auch eine völlige andere Musik die Szenerie bestimmt und die gedämpften Streicher eine ganz lichte Atmosphäre zaubern, dann öffnet Poska Raum und Zeit. Nur für eine Saison ist die die neue Basler Musikdirektorin am Haus. Dann mischt der neue Intendant Benedikt von Peter die Karten neu. Für diese „Bohème“ hätte man ihr, die ab 27. März noch Benjamin Brittens „Peter Grimes“ dirigieren wird, eine stimmigere, musikalischere Regie gewünscht. Da die Hip-Hop-Einlagen auch zwischen den vier Bildern der Oper geschaltet werden, muss sie jedes Mal von neuem mit dem Sinfonieorchester Basel Atmosphäre schaffen. Insgesamt gelingt der Estin eine präzise, sensible Deutung, die die dynamischen und klangfarblichen Extreme scheut und einen großen Spannungsbogen hat.

Leider ist Davide Giustis Rodolfo häufig zu forciert. Der italienische Tenor verfügt zwar über eine strahlende Höhe, aber in der Mittellage wird die Stimme eher dumpf. Mit Cristina Pasaroiu ist eine lyrische Mimì an seiner Seite, die mehr Zwischentöne entdeckt. Die Musetta von Valentina Mastrangelo hat Leichtigkeit und Brillanz. Domen Krizaj ist mit seinem weichen, flexiblen Bariton ein gutmütiger Marcello, der die Temperamentsausbrüche seiner Ex gekonnt abfedert. Dass Schaunard (solide, mit affigem rosa Dutt: Gurgen Baveyan) und Collin (mit profundem Bass: Paull-Anthony Keightley) in diesem Setting schwul sind, ist ein Aktualisierungsversuch des Regisseurs, der szenisch nicht funktioniert. Wenn Paull-Anthony Keightley tuntig mit wackelndem Hintern und gestikulierenden Händen in dieser versifften Vorstadtecke hin- und herstakst und seine Halsketten im Müll sucht, dann tendiert die Street Credibility dieses Collin gegen Null. Überhaupt kommen die Figuren kaum näher, weil sie mehr behauptet als gestaltet sind. Die Erkrankung von Mimì ist lange Zeit überhaupt nicht zu spüren, ehe der Regisseur sie am Ende mit Glatze präsentiert.

Auch die beiden mittleren Bilder geraten in Schieflage. Konsumkritik steht im Zentrum des zweiten Bildes im Quartier Latin. Hier gelangen die vier Bohèmiens in den Vorweihnachtskaufrausch einer Konsumgesellschaft. Die in schwarzen Edelklamotten und Sonnenbrillen gesteckten Choristen (Einstudierung: Michael Clark) sind alle beim Shoppen (Kostüme: Esther Bialas). In der Bühnenmitte dreht sich ein Auto als Hauptgewinn, aus dessen Kofferraum Parpignol (Donovan Ellioth Smith) die Geschenke holt (Bühne: Annette Murschetz). Aber auch hier macht der Regisseur, der vor zwei Jahren am Theater Basel eine opulente, auch berührende „La Traviata“ in Szene setzte, zu wenig aus dem Setting. Das Aufeinanderprallen von Armut und Reichtum wird nivelliert, da sich auch Rodolfo mit seinen Freunden in dieser Glitzerwelt sichtlich wohlfühlt. Die musikalisch in Klang gesetzte Einsamkeit des dritten Bildes wird konterkariert durch die Partymucke, die zur Umbaupause durch die Boxen dröhnt. Ein Club im Rotlichtmilieu ist hier der Schauplatz, wo Mimì nach ihrem Rodolfo sucht. Zumindest gelingt die heikle Schluss-Szene, wenn sich Musetta und Marcello streiten, während Rodolfo und Mimì gleichzeitig mit schön ausgesungenen Melodielinien ihre Gefühle offenbaren, musikalisch und szenisch auf hohem Niveau. Am Ende ist das Auto verbrannt und liegt auf dem Dach. Der ergreifende Schluss wird nicht mehr von Hip-Hop-Klängen kommentiert, sondern der Regisseur lässt Puccini das letzte Wort. So kann der Tod Mimìs, den Cristina Pasaroiu mit inniger Tongebung gestaltet, doch berühren.

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