Reizvolles vom „ältesten Instrument“ – Bernhard Webers Film „Der Klang der Stimme“
Allein die in Altamira gefundene Knochenflöte von ca. 14.000 Jahren vor unserer Zeitrechnung, die in der Schwäbischen Alb sogar mindestens 25.000 Jahre alte beweisen: Menschen haben lange vor allem Finanzwesen musiziert und damit auch gesungen – denn vor allen gebauten Instrumenten hat der Mensch ein Instrument in seiner Kehle entdeckt und genutzt. Was dieses Instrument alles kann, wie es ausgebildet und eingesetzt werden kann, zeigt Bernard Webers facettenreich aufgebauter Film reizvoll genau, höchst unterhaltsam und mehrfach berührend.
All das gelingt, weil er im Free-Jazz-Vokalisten Andreas Schaerer, in der Stimmtherapeutin Miriam Helle, dem Stimmforscher Matthias Echternach und der Sopranisten Regula Mühlemann vier Spezialisten gefunden hat, die fast alle Aspekte des Phänomens „menschliche Stimme“ vorführen und in weiten Teilen erklären können. Da zeigen Ausschnitte einer Gruppentherapie, wie richtiges Atmen und dann beginnende Tonproduktion zunächst Entschleunigung und dann Befreiung bewirken. In überraschendem Schnitt folgt eine MRT-Aufnahme von Hals und Kopf, in der die zum Gesang nötigen Körperteile in Aktion zu sehen sind. In bunter Reihenfolge sind die Anfänge eines Jodel-Kurses, Schweizer Kindergartenkinder in einer „Dornrösli“-Probe, die Wehen-Atmung einer Schwangeren zusammen mit ihrem Mann, der Jazzer Andreas Schaerer mit seinem speziellen Ticki-Tacka-Scat-Geräuschen in Improvisationen und im Musizieren mit einer Combo zu erleben. Dann erklärt Stimmforscher Echternach Studenten mit seinem Sprechtonfall um die 30 Hertz, dass Juan Diego Flórez mit seinem endlosen „hohen C“ bei 523 Hertz angekommen ist, während Diana Damraus Königin der Nacht beim dreigestrichenen F schon 1396 Hertz erreicht.
Zu erleben ist ein Trio, dass an Mikrofonen einen Soundtrack zu kurzen Filmschnipsel vom Laubpuster bis zum Kindertrubel produziert. Die Therapeutin zeigt derweil einer hyper-gestylt moderierenden, aber letztlich Lärm geplagten TV-Moderatorin, wie sie mentale Befreiung in einer Schrei-Sequenz erreichen kann. In bunter Folge singt Regula Mühlemann Mozarts „Exultate“, Humperdincks Märchen-Gretel und eine Belcanto-Szene mit Ramon Vargas; sie macht klar, dass klassischer Bühnengesang „Ausliefern – Aufmachen – Transportieren“ verlangt, wenn er den Zuschauer erreichen und anrühren will. Im Kontrast dazu steht das Geburts-Schreien einer Schwangeren oder Schaerers ganz andere Jazz-Impro.
Wohl alle Zuschauer und erst recht Vokalfreunde, ja Kenner müssen dann über drei, vier Sequenzen mit „Singen außerhalb der Norm“ staunen: Regisseur Weber hat in der Brasilianerin Georgia Brown ein Stimmwunder gefunden; sie kann bis über 2200 Hertz hinaus Töne singen; bei der Analyse ihrer Stimme zeigt die Bildschirmgrafik, dass bei 2000 Hertz ein Teil ihrer Stimmlippen im Kehlkopf sogar über 3000 Hertz hochschwingt, nahe an einem Pfeifton für das menschliche Ohr, auch von einer durch die Nase eingeführten Mini-Kamera nicht zu entschlüsseln – prompt fragt deshalb ein hinzugezogener Stimmprofessor, ob man die Magie entschlüsseln oder als Mysterium lassen sollte. Zum Schönsten der Filmbilder aber gehört, in den Gesichtern der Singenden etwas zu sehen, was der Mensch sonst kaum erlebt: reflektionsfrei glücklich im Moment aufzugehen. Allen nicht-Singenden dringend zu empfehlende 90 Kino-Minuten: als Einstieg in …
Kinostart am 1.11.2018 (D) und am 21.12.2018 (A).