Wenn man nach der Premiere des „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Bert Brecht und Kurt Weill beim Verlassen des Opernhauses „Wie man sich bettet, so liegt man“ oder „the moon of Alabama“ vor sich hin summt oder sich am liebsten den Weg „in the next whisky bar“ zeigen lassen würde, wie es im berühmten Alabama-Song so schön heißt, dann geht das natürlich zuerst auf das Konto der beiden kongenialen Musik- und Texterfinder Weill und Brecht.
An diesem Abend liegt es aber wohl auch daran, dass die Musiker der Staatskapelle und die Protagonisten so demonstrativ im Mittelpunkt stehen (bzw. sitzen) und ihre Wirkung entfalten wie sonst selten bei diesem Stück, das leicht zu einer Ausstattungsorgie geraten kann, um die Versuchungen des Kapitalismus kräftig und plakativ zu illustrieren. Schließlich geht es mit der sagenhaften Stadt Mahagonny um so eine Art Über-Las-Vegas (heute müsste man hinzufügen: von Trump gebaut).
Ausstatter Christoph Ernst hat für das Orchester ein hohes Podest auf die Bühne gesetzt. Dort vollbringen die Musiker unter Leitung von Christopher Sprenger eine Glanzleistung an losbrechendem Furor und rhythmischem Instinkt für das Rezitativische, bewältigen mühelos sämtliche, manchmal abrupten Stilwechsel, entfesseln eine grandiose Weltuntergangsstimmung, wenn die Vernichtung durch den auf die Stadt zurasenden und dann plötzlich abdrehenden Hurrikan („… was er an Schrecken tun kann, das können wir selber tun“) droht. Sie stellen damit diesen 1930 schon gegen den pöbelnden Widerstand des Nazimobs in Leipzig uraufgeführten Dreiakter ganz entschieden als ein Werk einer avancierten Moderne mit der deutlich spürbaren Ambition einer bewusst antibürgerlichen Geste auf die Bühne, das beim Zuhörer etwas erreichen will. Als Provokation zum Nachdenken über die Geschichte und mit dieser grandiosen Musik. Was heute natürlich enorm befördert würde, wenn man den Text lückenlos verstehen oder wenigsten mitlesen könnte. Brecht ist in seiner dialektischen Poesie so genau, dass er die gleiche Chance wie der Komponist verdient. … Das meiste kommt natürlich als verständliche Text-Musik-Melange über die Rampe.
Der Raum ist eine angedeutete, gleichwohl feierlich ernste Stimmung setzende Gedenkhalle, in der sich eine Trauergemeinde versammelt. Die Sänger sitzen unterhalb des Orchesters, links und rechts neben dem wuchtigen marmornen Rednerpult, haben eine Urne, wohl mit der metaphorischen Asche jeder Utopie einer anderen Welt bei sich. So wie die Choristen, die wie das Publikum, sagen wir bei einer national bedeutenden Feierstunde in der Paulskirche, in den ersten Reihen des Parketts sitzen und von da aus ihren (fabelhaft präzise und mit koordinierter Wucht von Peter Schedding einstudierten) vokalen und darstellerischen Part beisteuern.
Mit dem Feierstunden-Pathos, bei dem die Regieanweisungen wie Bibelsprüche in der Kirche zelebriert werden, setzt Regisseur Michael von zur Mühlen einen (für seine Verhältnisse überraschend) formstrengen Rahmen, der auf seine Weise, sozusagen dialektisch, auch mit den rezeptionsgeschichtlich gängigen, kapitalismuskritischen Bildern spielt, die er damit verweigert. Für alle, die sich drauf einlassen, funktioniert das zumindest teilweise als Kopf-Theater gut, weil sich die Protagonisten auch dabei darstellerisch voll ins Zeug legen. Mit Ralph Ertel als überragender, am Ende wegen Geldmangel gehängter Jim Mahoney, Svitlana Slyvia (Witwe Begbick), Ki-Hyun Park (Dreieinigkeitsmoses), Ines Lex (Jenny), Robert Sellier (Jack O’Brian und Tobby Higgins), Vladislav Solodyagin (Alaskawolfjoe) und den beiden Gästen Philipp Werner (Prokurist) und Franz Xaver Schlecht (Sparbüchsenbill) ist ein so stimmstarkes wie spielfreudiges Ensemble beisammen, das auch den Wechsel in der ästhetischen Gangart nach der Pause bewältigt.
Jetzt ist der Raum nicht mehr vom Pathos erfüllt. Die Darsteller wickeln sich in einer grotesk überhöhten Trash-Orgie in Frischhaltefolie und nutzen jede denkbare Spiel(zeug)art zur Ersatzbefriedigung. Das wird zunächst über Video eingespielt, bis sie die Bühne fürs Finale überrennen. Da lässt von zur Mühlen dann doch den Fantasiedrachen steigen; das Stück und die Zuschauer aber nicht entkommen. Dass die Premiere am Abend nach der „America first“ Rede von Donald Trump vor dem Capitol in Washington stattfand und nicht nur Mahoneys Perücke, sondern auch dessen „Du darfst!“ Rede im Angesicht der drohenden Hurrikan-Katastrophe, den Abend zusätzlich in ein grelles Licht rücken, gehört zu der Art von Dialektik, die wir wohl auszuhalten lernen müssen.