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Foto: Ben van Duin/Ruhrtriennale 2017 vlnr.: Barbara Hannigan (Mélisande), Leigh Melrose (Golaud).
Foto: Ben van Duin/Ruhrtriennale 2017 vlnr.: Barbara Hannigan (Mélisande), Leigh Melrose (Golaud).
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Ruhrtriennale: Krzysztof Warlikowski und Sylvain Cambreling machen aus Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ ein spannendes Kammerspiel

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Dass der aktuelle Intendant der Ruhrtriennale Johan Simons die letzte Jahresscheibe seiner Intendanz mit Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ einläutet, hat auch etwas von einer Referenz an den Erfinder dieser alljährlichen kulturellen Frischzellenkur für das Ruhrgebiet Gerard Mortier. Die Bochumer Jahrhunderthalle, in der diese Eröffnung mit einer vorgeschalteten Rede von Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller zelebriert wurde, hat sich längst als Herzstück der Ruhrtriennale etabliert. Dieses Industriearchitektur-Erbstück verdankt Mortier damit eine respektable Alterskarriere!

Seinen Reiz als Theaterraum bezieht die Halle aus dem historischen Charme der Verfremdung. Obwohl er für diesen Zweck eigentlich immer zu groß ist. Allen Möglichkeiten für Projektions- oder Verstärkertechnik zum Trotz: so ganz ohne Risiko ist keine Oper hierher zu versetzten. Wer die Werke, die im Kopf der Zuschauer zu einem Opernhaus gehören, in eine XXL-Industriehalle verlegt, der braucht zunächst eine Idee, wie man Musik und Aktion ins Verhältnis setzt.

Am radikalsten ist vor elf Jahren David Pountney mit Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ verfahren. Der hatte mit einer 120 Meter langen und nur vier Meter breiten Laufstegbühne die Weite des Raumes wirklich angenommen und die Zuschauer und das Orchester auf fahrbare Tribünen links und rechts davon platziert.

In diesem Jahr ist der Dauerausstatterin von Mortiers einstigem Schützling und Protegeé Krysztof Warlikowsky Małgorzata Szczęśniak das Kunststück gelungen, das Gegenteil des Offensichtlichen zu imaginieren: beklemmende Enge der Verhältnisse in einem rätselhaften Schloss, gar einer Grotte, statt der unübersehbaren Weite dieses sehr speziellen Theaterraumes. Da fügte sich sogar das Prasseln eines nächtlichen Sommerregens auf das Dach zu einer vertrauten Künstlichkeit. Oder künstlichen Vertrautheit.

Weit hinter der Spielfläche sind die Musiker wie ein Salonorchester aufgebaut. Dahinter eine in art deco Manier geschwungene Treppe mit Einfassung. Darüber, vor den Fenstern, durch die anfangs noch das Tageslicht fällt, eine breite Projektionswand, auf der die jeweiligen Orte der Handlung in französischer Sprache verkündet und dann immer wieder das Geschehen auf der weiten Spielfläche übertragen wird. Großgemusterter Parkettboden, edel verkleidete Wände, Türen für die Auf- und Abgänge der Familie und ihres Personals, eine Tafel und ein paar Stühle, auf denen man vor dem Orchester Platz nimmt, als würde man in einen Fernsehschirm schauen oder das Kaminfeuer betrachten. Weiter vorn ein Bartresen mit Barkeeper am Zapfhahn und modischer Beleuchtung dahinter. Und ein Bildschirm mit Vollmond und Wolken. Doch auch für Ausschnitte aus Hitchcocks „Die Vögel“, eine Demonstration mit polnischen Fahnen oder Schlachthausszenen. Zu diesen Metaphern für die Welt „da draußen“ gehört auch eine Reihe von Waschbecken. Vor einer Kachelwand, die auch zu einem Schlachthaus gehören könnte.

Wenn das Geschehen auf den Breitbandbildschirm im Hintergrund übertragen wird, dann sorgen das Schwarz-Weiß und die verschiedenen Blickwinkel für leichte Irritationen. Und das nicht nur, weil die Bewegungen der Akteure zwar synchron sind, aber offensichtlich die Fensterraster dahinter nicht mit denen übereinstimmen, die man im Original auch sieht. Die Irritationen in der Verdopplung des Anscheins der Oberfläche sind ja schon der zugrundeliegenden Geschichte von Maurice Maeterlinck eingeschrieben.

An Mortier musste man an diesem Abend auch denken, weil mit dem Stuttgarter GMD Sylvain Cambreling nicht nur ein Debussy liebender und mit „Pelléas et Mélisande“ höchst erfahrener Dirigent, sondern auch ein langjähriger Partner Mortiers am Pult der Bochumer Symphoniker stand. Er spielte seine Erfahrung raumfüllend und in einem sozusagen inneren Diskurs mit Wagner aus, ohne daraus gleich einen betont französischen Anti- (oder Post- oder wie auch immer) Tristan zu machen. Er beließ dem Werk sein eigenständiges dunkles Leuchten. Und lud das Ganze so mit der Spannung auf, die bei der Übertragung der symbolistisch märchenhaften Geschichte in einen Psychokrimi über Beziehungen und Obsessionen im eher großbürgerlichen Milieu gleichsam von selbst entsteht.

Bei Warlikowsky stehen Mélisande und Golaud (und nicht sein sensibler Bruder) im Zentrum. Die Zuneigung, die Mélisande zu Pélleas entwickelt, bleibt eher am Rand und eine Projektion in den Augen Golauds. Sie wächst sich zu einer todbringenden, brudermordenden Eifersuchts-Attacke aus. Der Rollendebütant Leigh Melrose hat stimmlich und darstellerisch das Potential, das hinter Golauds Zuneigung, Leidenschaft und dem Besitzanspruch genau die Unbeherrschtheit und latente Gewaltbereitschaft aufblitzen lässt, die ihn so bedrohlich düster und zum Leben untauglich macht, wie hier. Als sich Mélisande auf ihn stürzt und an ihn klammern will, schlägt er sie zu Boden, weil sich solche Unbeherrschtheit in seinen Verhältnissen wohl nicht schickt. Zumindest für eine Frau, denn er wendet sich ihr eindeutig rabiat und fordernd zu. Barbara Hannigan ist auch als (rollenerfahrene) Mélisande eine Klasse für sich!

Warlikwosky lässt sich die Chance nicht entgehen, alle Talente dieser Ausnahme-Künstlerin zum Leuchten zu bringen und ihre Verletzlichkeit, Liebessehnsucht und Verzweiflung bis an die Grenzen des Darstellbaren auszuloten: Wenn Golaud die am Boden Zerstörte an der Bar aufgabelt und nebenan im Raum mit den Waschbecken das erste Mal stürmisch nimmt. Wenn sie sich – erkennbar fremdelnd aber gutwillig – der Tischordnung anzupassen versucht und ihr das nicht so recht gelingt. Wenn sie unbefangen mit Pelléas „spielt“ (Golaud meint, nicht zu Unrecht, wie Kinder…). Oder wenn sie sich auf den Schoß des bei aller Reserviertheit gütigen Arkel flüchtet. In dieser Rolle ist Franz-Josef Selig ebenso überzeugend wie Sara Mingardo als Form und Sitte hütende Geneviève oder Phillip Addis als jungenhafter Pelléas.

Musikalisch fordert der Raum bei der Aussteuerung der Mikros zwar immer mal seinen Tribut, gleichwohl gelingt ein szenisch und darstellerisch bemerkenswerter Auftakt der diesjährigen Ruhrtriennale.

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