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Foto: Stefan Deuber
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Russischer Surrealismus mit lateinamerikanischer Musikwürze – Oscar Strasnoys „Fälle“ nach Texten von Daniil Charms am Opernhaus Zürich

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Wie beginnt ein schöner Sommertag? Dafür gibt es kein Patentrezept. In der drei Stockwerke unterm Opernplatz gelegenen Züricher Studiobühne wird hinter schmalen Oberlichtern zartrosa Licht aufgezogen und davor ein hermetischer Innenraum mit Arbeitslicht erfüllt. Hier, in dieser zu klein geratenen Turnhalle für eine Zeit, die so groß hinauswollte, scheint für einen russisch Uniformierten die Zeit keine Rolle zu spielen. Liegt nicht unbegrenzte Fülle sowjetischer Pionierjahre vor ihm?

Vorrichtungen für Basketball sowie viele Klappen und Spinde zieren die Wände. Die Stätte der Körperertüchtigung könnte sich in einem Petersburger Neubauviertel befinden, aber auch im Hof einer Kaserne, eines Knasts oder einer Psychiatrie, in dem die Gefangenen sich innerhalb strenger Regeln austoben dürfen. Im Krebsgang treten das Dutzend Musiker, die 13 Solisten und dazu etliche Statisten aus der rückwärtigen Wand – das Grammophon kratzt, krächzt und ächzt von links oben dazu. Feine Nuancierung bei den Uniformen, dazu nach dem Zeitgeschmack individuell gefertigte Kleidung für die übrigen Bürger und Genossen entwerfen ein differenziertes Gesellschaftsbild der späten 1920er Jahre.

Die dynamische und artistische Personenführung spielt bevorzugt auch mit simultanen Vorgängen. Jan Eßingers Inszenierung erinnert mit vielen Details an das pulsierende Leben, den gesellschaftlichen Gärungsprozess und den Irrwitz in der westlichsten Metropole der jungen Sowjetunion. Der Alltag damals war nicht gerade ein Zuckerschlecken, das junge Leben mit den starken Zügen des Irrealen aber eine Lust. Ob die Schreie, die der russisch-argentinische Komponist Oscar Strasnoy seiner Partitur einschrieb, von ihr herrühren oder von den Schmerzen, die den Individuen angetan werden, bleibt unbestimmt. Jedenfalls werden die Momente des Nicht-Fassen-Könnens der Wirklichkeit durch einen hochsensiblen surrealistischen Mutwillen noch gesteigert. Denn dass die Ära des wahnwitzigen Um- und Aufbruchs auf der Kippe steht, signalisieren die folgenden Szenen. Fedja (Andri Björn Róbertsson) nähert sich Irina (Hamida Kristoffersen), die grundsätzlich keine Unterwäsche trägt, durch Hinauftasten am rechten Bein. Noch bevor er annähernd zum Ziel kommt, stürmt ein Trio der von Iain Milne angeführten Ordnungskräfte in die Gymnastikecke, um der sich anbahnenden Unzucht durch Verhaftung ein Ende zu bereiten. Dass die Menge gafft, wie ein halbes Dutzend alter Frauen aus Neugier oder anderen Mangelerscheinungen (offenkundig aber ohne Fremdeinwirkung) aus den Fenstern höher gelegener Etagen stürzt, ist eine imposante Kollektiv-Szene.

Das Ensemble des Internationalen Opernstudios Zürich erweist sich durch die Bank als kompetent und treffsicher – von der Bassgewalt Bastian Thomas Kohls über die durch den Bassbariton Roberto Lorenzi oder die Mezzosopranistin Lin Shi vertretenen mittleren Stimmlagen bis zu den Spitzentönen von Alexandra Tarniceru oder der aus der Schweiz stammenden Sopranistin Estelle Poscio. Mit diesem so dynamisch, reaktionsschnell und quirlig agierenden Team geht es auch des Weiteren turbulent und deftig zu: Da entwickelt einerseits die Körper-Artistik des „neuen Menschen“ an zwei Strapaten ihre Faszination, wird andererseits aber Lynchjustiz praktiziert (das heißt: die Meute schickt sich an, Köpfe und Arme abzureißen). Ein Obdachloser wird mit Benzin übergossen und abgefackelt, der Kampf zwischen Puschkin und Gogol als Gefecht zweier Kinder in Krähen- und Katzenmaske ausgetragen (Katze gewinnt). Kiefer werden vorsätzlich zertrümmert, Lebenslichter versehentlich ausgeblasen. Eine Zahnoperation verläuft so blutig, dass sogar eine Wandspalte zu bluten beginnt. Der fast beiläufige Tod, der um sich greift, ohne dass jemand von ihm Notiz nähme, entwickelt sich zur gespenstischen Bedrohung. Das alles hat Jan Eßinger so sorgfältig wie wohldosiert in Szene gesetzt.

Das Libretto von Strasnoys Oper, von Beate Breidenbach ins Deutsche gebracht, rekurriert auf der sprachavantgardistischen, oft böse-witzigen Kurzprosa von Daniil Charms. Diese spielt in absurd erscheinenden Metaphern auf das Vordringen von bedrohlichen Formen der sich konsolidierenden Staatsmacht im Alltag an, auch auf den Widerstreit von individuellen Bedürfnissen oder Lebensformen und dem, was „angesagt“ ist. Die Texte (wie auch ihr Autor) erfuhren eine intensive Leidensgeschichte: 1930 wurden sie von einer sowjetischen Kulturaufsichtsbehörde als „revolutionäre Jongleurskünste“ abgekanzelt und als „Anschläge eines literarischen Rowdies“ verurteilt. Doch beschädigte der sensible Intellektuelle wohl nichts als das eigene Leben. Es endete am 2. Februar 1942 in der Leningrader Gefängnispsychiatrie (vermutlich aufgrund von Unterernährung; d.h.: die Anstaltsleitung ließ ihn und seine Leidensgenossen einfach verhungern).

Nachdem der isländische Komponist Haflidi Hallgrimsson 2004 in Lübeck mit „Die Wält der Zwischenfälle“ bereits einen auf Charms-Texte gestützten musikalischen Bewältigungsversuch des so sehr von Totalitarismus geprägten 20. Jahrhundert vorstellte, schlug der 1970 geborene Oscar Strasnoy in dieselbe Kerbe. Seine Arbeit, 2012 für das Theater in Bordeaux entstanden, heißt schlicht und vieldeutig „Fälle“ – anspielend auf den Gebrauch des Begriffs in der Medizin und Justiz, im Versicherungswesen und im Alltagssprachgebrauch. Strasnoys feingliedrige Komposition hat sich weitgehend von Modellen der musikalischen Grotesken aus den 20er und 30er Jahren gelöst (vermeidet insbesondere die nahe liegenden Anleihen bei Schostakowitsch). Mit Einsprengseln von Tango-Ton (vor allem bei den Akkordeon-Einlagen, aber auch im Zusammenwirken von Kontrabass, Klarinette und Schlagzeug oder bei Soli der Hammond-Orgel) scheint der argentinische Hintergrund des Komponisten auf, der aber insgesamt einen bemerkenswert eigenständigen Weg geht und aufs Gestische ebenso setzt wie auf die Integration der vielfältigen Geräusche, die der DJ beisteuert. Penetrante Repetitionen, chorischer Sprechgesang, Trompetensignale und wunderschön karge Violinsoli (Yuka Kiryu) sorgen für starke Effekte. Insbesondere aber bringen sich die Charms-Texte mit ihren prognostischen, ja: prophetischen Qualitäten aufs Neue drastisch in Erinnerung – geschärft durch eine luzide Musik.

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