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Gudrun (Nadja Stefanoff) vor Gericht. Foto: Andreas Etter
Gudrun (Nadja Stefanoff) vor Gericht. Foto: Andreas Etter
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Schuld und Sühne – Haukur Tómassons Kammeroper „Gudruns Lied“ in Mainz

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Wenn Nadja Stefanoff als Gudrun auf der Anlagebank sitzt – im Hintergrund eine vergitterte Arrestzelle – denkt man als Zeitzeuge der 1970er Jahre unweigerlich an Gudrun Ensslin. Doch das Musiktheater-Stück, das im Großen Haus des Mainzer Staatstheaters gespielt wird, thematisiert nicht den Prozess gegen die Terroristen-Gruppe der Roten Armee Fraktion in Stuttgart-Stammheim, sondern das Schicksal der Gudrun Gjúkadóttir in der isländischen Version des Nibelungen-Liedes. Wir erleben die deutsche Erstaufführung von „Gudruns Lied“ – einer Kammeroper des isländischen Komponisten Haukur Tómasson.

Manches erinnert an diesem Abend an Richard Wagners „Ring des Nibelungen“, vieles ist ganz anders. In der altisländischen Lieder-Edda, wie sie ca. 1250 im Codex Regius aufgezeichnet wurde, sind unter den Heldenliedern auch 15 Nibelungenlieder enthalten, davon drei ausdrücklich so bezeichnete Gudrun-Lieder. Diese nach Island gewanderte Version des Nibelungen-Stoffes unterscheidet sich von der deutschen durch eine etwas andere Personenkonstellation und die Häufung innerfamiliärer Bluttaten.

Gudrun Gjúkadóttir spielt hier die Rolle, die in der deutschen Version des Stoffes Kriemhild innehat. In Island ist sie die Tochter Grimhilds und Gjukis und zunächst Gattin des jungen Helden Siegfrieds (Sigurd), danach Ehefrau Etzels (Atli). Der ist im Altisländischen kein Hunnenkönig, sondern Angehöriger einer Nachbarsippe und Bruder Brynhilds. Brynhild hatte als Rache für ihre Verschleppung und Verheiratung mit Gudruns Bruder Gunnar diesen und den zweiten Bruder Högni zum Mord an Sigurd angestiftet und sich anschließend das Leben genommen. Gudruns Heirat mit Atli ist ein Akt der Sühne, der jedoch Atli nicht daran hindert, Gunnar und Högni umbringen zu lassen. Grimhild rächt sich, in dem sie ihre beiden gemeinsamen Söhne mit Atli tötet und dem Vater als Mahlzeit auftischt – eine Analogie zum antiken Medea Stoff –, nach dieser Tat aber auch noch Atli selbst umbringt.

Haukur Tómasson erzählt diese brutale Geschichte als Retrospektive aus Sicht Gudruns anhand eines Textes, den er aus den übrigen Nibelungenliedern der Edda collagiert hat. Dementsprechend lautet der originale Werktitel „Das vierte Gudrun-Lied“ – eine Pointe, die das mit dem Stoff bis heute wohlvertraute isländische Publikum einordnen kann. Für das deutsche Publikum reicht schlicht „Gudruns Lied“, denn szenisch und sängerisch dominiert offensichtlich die Gudrun-Figur. In ausgreifenden musikalischen Bögen lässt sie das grausame Geschehen in Erinnerungen und Visionen emotional Revue passieren, als ob sie jetzt erst so recht zu sich komme – eine Aufgabe, die Nadja Stefanoff in der Titelrolle beeindruckend löst. In ihren Gesang hinein mischen sich mitunter die Opfer des Geschehens. Wir erleben zunächst Brynhild (Verena Tönjes), Atli (Brett Carter) und die beiden kleinen Söhne (Marian Brantzen und Heinrich Buff, beide Mitglieder des Mainzer Domchores). Der unerwartete Einsatz der zarten Sopranstimmen hat eine erschütternde Wirkung. Ergänzt wird die Besetzung durch drei Nornen (ähnliche wie in Wagners „Ring“), die zugleich Atlis Knecht Knefrodur (Alin Deleanu), Gunnars zweite Gattin Glaumvör (Lucie Ceralová) und Högnis Ehefrau Kostbera (Maren Schwier) verkörpern. In einer kurzen Gelage-Szene an Atlis Hof tritt als wüste Kriegerschar der Herrenchor auf. Etwa in der Mitte des Stückes kommt es sogar zu einem vierstimmigen Ensemble, in dem aber alle Beteiligten isoliert vor sich hin singen. Dass das, was im Verlauf der Tragödie an Leben und Gemeinschaft zerstört wurde, sich nicht mehr zusammenfügen lässt, wird hier sinnfällig. Gesungen wird im originalen Altisländisch mit deutschen Übertiteln.

Mit einer Besetzung von 15 Instrumentalisten und acht Gesangspartien kann man „Gudrun Lieds“ als Kammeroper einstufen. Tómasson schrieb sie 1994–96 in Zusammenarbeit mit der englischen Theaterregisseurin Lucy Bailey als Auftragswerk für die damals neu gegründete dänische Opernkompanie „Opera Nord“; 1996 gab es eine erfolgreiche Uraufführungsserie in Kopenhagen. Die deutsche Erstaufführung verdankt das Stück zum einen den Abstandregeln der Corona-Pandemie, die in der Spielzeit 2020/21 kleine Besetzungen forderten, zum andern dem besonderen Interesse des Mainzer GMDs Hermann Bäumer für die Musik des nördlichen Europas von Großbritannien über Skandinavien bis ins Baltikum. Die Proben begannen im Herbst 2020 während des Lockdowns und führten bis zur Radio-Premiere Ende Januar 2021 im Sender Deutschlandfunk Kultur. Die mehrfach verlängerte Theaterschließung, der entstandene Premierenstau und die mehrmals veränderten Hygienebestimmungen brachten auch in Mainz ernsthafte Dispositionsproblemen mit sich, und so musste das Publikum noch einmal fast 15 Monate auf die szenische Begegnung warten. Als Gastdirigent am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters steht nach wie vor Robert Houssart, Kapellmeister an der Königlichen Oper Kopenhagen. Umsichtig gibt er den Feinheiten der Partitur Raum und hält den musikalisch-dramatischen Spannungsbogen.

Spätestens seit er 2004 für seine Kammeroper den Nordic Council Prize erhielt, gilt Haukur Tómasson (Jg. 1960) als einer der renommiertesten Komponisten Skandinaviens. Er stammt aus einer musikalisch geprägten Familie und studierte Musiktheorie und Komposition in Reykjavík, Köln, Amsterdam und San Diego (Kalifornien). Sein kompositorisches Verfahren in „Gudruns Lied“ bezeichnet er als „Ketten-Technik“; man könnte es auch als eine Art „entwickelnde Variation“ bezeichnen, die weniger auf motivisch-thematische als auf rhythmische und melodische Veränderung setzt. Tómasson zieht selbst einen Vergleich zur barocken Chaconne – also einem Kompositionsmodell, das melodisch, rhythmisch und harmonisch einen klaren Rahmen setzt – und parallelisiert die die darin enthaltene „Zwangsläufigkeit“ mit dem schicksalhaften Ablauf der blutigen Nibelungen-Tragödie. Vom machtvollen, suggestiven Sog der Musik Richard Wagners ist jedenfalls kaum etwas zu spüren. Die Grundstimmung der Musik ist klagend und meditativ; nur im Umkreis der kriegerischen Atli-Figurs wird sie etwas zupackender und dramatischer. Die oft melismatischen Gesangslinien erheben sich über einer delikat instrumentierten, teils ruhigen, teils nervösen Instrumentalbegleitung aus kurzen Phrasen, die in minimalistischer Technik wiederholt und abgewandelt werden. Das Klangbild ist modal und erinnert trotz einiger Anklänge an Philip Glass eher an nordische Folklore und an Alte Musik; an manchen Stellen sind Naturgeräusche und Vogelstimmen hineinverwoben. Tómassons Partitur lädt ausgesprochen ein zum Hinhören und Hineinhorchen; dies entspricht der Haltung Gudruns, die selbst in sich hineinhorcht und damit im Nachhinein die Zwangsläufigkeit des Geschehenen in Frage stellt.

Die Mainzer Stückfassung von Regisseurin Elisabeth Stöppler sieht sich diesem Grundgedanken verpflichtet. Im Auftrag des Staatstheaters hat die Schriftstellerin Hannah Dübgen die ursprünglichen kurzen Zwischentexte durch eine Rahmenhandlung mit ausführlichen Monologen ersetzt. Diese dienen zunächst einmal dazu, die Ereignisse des isländischen Nibelungen-Epos zu erzählen, die im Ursprungsland nach wie vor zur Allgemeinbildung gehören, aber (gerade in dieser Variante) in Deutschland nicht vorausgesetzt werden können. Gegenüber dem Original gewinnt das Sprechtheater an Gewicht, und aus der Kammeroper wird im Grunde eine Semi-Oper wie Henry Purcells „King Arthur“ oder auch Kurt Weills „Silbersee“, in der sich Sprechtexte und Musik die Waage halten und gegenseitig beleuchten. Man merkt Dübgen ihre Erfahrung als Theaterdramaturgin und Opernlibrettistin an, denn der durchaus markante Eingriff in die Originalgestalt des Stückes lässt nicht nur die Musik unbeschadet, sondern lädt den Zuschauer auch zu vertiefter Auseinandersetzung mit der Unausweichlichkeit von Schuld ein: Gudrun steht nach einer Selbstanklage vor Gericht; die Ermordeten erscheinen in ihren Gedanken, und die Überlebenden der Familie sagen als Zeugen aus.

Grymhild, König Gjukis Witwe und Gudruns Mutter, empfindet das Geschehen als unausweichlich. Als Drahtzieherin im Hintergrund hat sie sich stets verpflichtet gefühlt, Gjukis Erbe zu ehren und zu bewahren. „Wir sind alle eine Bestie, ihr die Klauen, ich der Kopf,“ sagt sie zu ihren Kindern. Für sie zählen Macht, Reichtum, Familienehre und Härte: sie lässt durchblickend, dass sie Gudrun für zu schwach hält. Als Kontrastfigur hat Dübgen den Rebellen Guttorm erfunden, Gudruns jüngsten Bruder. Er bekennt sich überraschend zum Mord an Sigurd. Begangen hat er diese Tat allem Anschein nach in einer unausgegorenen Mischung von brüderlicher Eifersucht und Hass auf das „System“. Umgedeutet erscheint in der Mainzer Stückfassung die Figur von Sigurds und Gudruns Tochter Svanhild. Gudrun hält sie für tot; tatsächlich wurde sie aber von Grymhild kurz nach der Geburt zu Hirten in Pflege gegeben, die sie ernährten und „mit Kleidern und Büchern“ versorgten. (Letzteres ist eine dank des hohen Bildungsniveaus im mittelalterlichen Island durchaus plausible Kombination.) Svanhild hat vom Prozess gegen ihre Mutter erfahren, verlässt ihr Versteck und macht sich ihr eigenes Bild. Grymhild hat in Svanhild wohl eine Art „dynastische Reserve“ gesehen, aber die Enkelin distanziert sich von Erwartungen und Einflüsterungen: „Ich merkte mir, was ich sah, nicht, was ich lernen sollte. Ich habe meinen eigenen Kopf. Ich stehe in niemandes Dienst. Ehrwürdige Tote verpflichten mich nicht.“

Bühnenbildner Valentin Köhler platziert die Handlung in einen klinisch weißen Raum. Das Publikum blickt direkt auf die Anklagebank und die dahinter liegende Arrestzelle. Justizvollzugsbeamte bewachen die Angeklagte und sorgen gegebenenfalls für Ordnung. Auf dem oben angebrachten Bildschirm darüber erscheinen die Anklageschrift in Kurzform und die im Ergebnis erschütternden Obduktionsberichte der Mordopfer. In Bänken links und rechts sitzen Zeugen, Beobachter und Protokoll. Das Publikum findet sich selbst in der Position des Richters. Als einzige der Zeugen stellt sich Grymhild dem gesamten Prozessverlauf. Dass Andrea Quirbach, kurzfristig eingesprungen für die erkrankte Monika Dortschy, notgedrungen das Textbuch mit sich führt, wirkt sinnigerweise, als wolle die Matriarchin immer noch das familiäre „Drehbuch“ in der Hand behalten. Vincent Doddema als Guttorm bleibt vor Gericht als vermeintlicher Systemüberwinder dem Geist spätpubertären Rebellion verhaftet. Den Randalierenden muss das Justizpersonal bändigen. Spätestens hier holt den Zeitzeugen die Erinnerung an die RAF wieder ein: Guttorm erscheint aus dieser Perspektive wie eine Mischung aus Jan-Carl Raspe und Andreas Baader.

In den musikalischen Szenen wird der Gerichtssaal gewissermaßen von der Vergangenheit überwuchert. Zunehmend blutbefleckt singen und agieren die Opfer, während auf dem Videobildschirm unruhige Naturszenen in Schwarz-Weiß ablaufen. Dass das Mainzer Regieteam (außer den Genannten Susanne Maier-Staufen für die Kostüme, Fabio Stoll und Andreas Etter für die Videos und Christin Hagemann für die Dramaturgie) auf naheliegende Splatter-Effekte verzichtet, unterstreicht die Ernsthaftigkeit des Anliegens. Schuldhaften Verkettungen entkommen wir nicht durch Überwältigung, schon eher durch Empathie, aber auch nicht ohne distanzierte Nüchternheit. Hannah Dübgen schreibt im Programmheft: „In Zeiten, in denen ein grausamer Krieg in Europa wütet, präsentieren wir ein Musiktheater, das nach den Ursprüngen der Gewalt fragt und danach, was es bedeutet, in einer brutalen Welt ein Individuum zu sein.“ Erfrischend kommt am Ende Leandra Enders als Svanhild von der Seite: „Wie konntest du deine Kinder töten?“ fragt sie. Als die Musik mit einem zarten, leise verklingenden Streicher-Flageolett verklingt, ergänzt das Gerichtsprotokoll Gudruns Personenbeschreibung vielsagend-nüchtern durch die kurze Zeile „Svanhilds Mutter“. 

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