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Foto: Ensemble Modern Orchestra/Anne Meuer
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Sinn im Paradoxon: Drei Uraufführungen mit dem Ensemble Modern Orchestra im Konzerthaus Berlin

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„Nicht bauen, sondern ‚ausdrücken‘!“ beschrieb Schönberg seine Absicht in einem Brief an Busoni im Jahr 1909. Es war das Entstehungsjahr von vieren seiner Fünf Orchesterstücke op. 16, mit denen Schönberg die klassische tonale Tonsprache ablöste und durch freie Atonalität eine expressionistische Phase einleitete, die den Weg in die Zukunft öffnete. Zusammen mit Schönbergs „Variationen für Orchester“ op. 31, dem ersten dodekaphonischen Orchesterwerk des Komponisten von 1928, das gerade die Entformalisierung gleichsam wieder untergräbt und sozusagen nur noch ‚baut’, bildete dies eine stimmige Klammer um die drei Uraufführungen, die im Zentrum des Konzertes standen.

Dem Dirigenten Peter Eötvös ist es zu verdanken, dass dieses zwingende Programm stattfinden konnte: in freundschaftlicher Verbundenheit hatte er sich kurzfristig bereit erklärt, für den erkrankten Pierre Boulez einzuspringen.

Die uraufgeführten Werke der Komponisten Bruno Mantovani, Jens Joneleit und Johannes Maria Staud stehen auf jeweils unterschiedliche Art im Zeichen eines expressionistischen Stils, der den Leitfaden des Abends abgab. Anklänge an eine expressionistische Epoche waren etwa in Bruno Mantovanis Komposition „Postludium” zu hören, einem Anschlusswerk an seine Oper über das Leben der russischen Dichterin Anna Achmatowa. Wilder Aktionismus und Introspektion sind die zwei Pole, die der Komponist zu vereinbaren sucht. So lässt er unter einem entschlossenen rhythmischen Grundtonus evokative Linien in Flöte und Akkordeon mit forcierten solistischen Eruptionen von Klarinette und Perkussion zusammentreffen. In radikalem Gegensatz zu Schönbergs expressionistischer Gestik überwiegt hier wie auch in Jens Joneleits Komposition das Triebhafte unter den expressionistischen Stilmitteln, das immer auch mit einem gewissen Kraftakt verbunden zu sein scheint.

Das Neuartige der uraufgeführten Werke tritt im Paradoxon der Reflexion des expressionistischen Stils zutage, was im Falle von Joneleits Komposition „Dithyrambes” sich hauptsächlich im Schaffensakt selbst vollzieht. Der Titel des Werks ist Programm: ein Dithyramb bezeichnet einen gesungenen, getanzten Hymnus für Dionysos, den griechischen Gott der Ekstase und der Fruchtbarkeit. Das Stück besteht zunächst, wie der Komponist beschreibt, aus einer total freien, im Nachhinein niedergeschriebenen Improvisation, die er zusehends verändert, daran seinen „Hörblick” schärft und es in Richtung Form führt. Diese endgültige Form ist von solch aufgeladener Intensität, dass selbst die Pausen, die Klangblöcke abrupt trennen, eine hochaktive Wirkung haben. Auf dem Weg vom Medium zum Konstrukt lässt der Komponist sogar äußere Schaffenskräfte mitwirken, indem er das Orchester in den Kompositionsprozess eingreifen und die Instrumente über ihren bestimmten Funktionsbereich hinaus einsetzen lässt. Das Stück wird somit erst bei der Probe vollendet. Es zeichnet sich dabei ein interessantes, für die Musiker herausforderndes Entstehungsphänomen ab, wenn auch der Spontaneitätsfaktor schließlich gezwungenermaßen verlorengeht und in eine Art hybride Form mündet, die Freiheit gleichzeitig fordert wie verhindert. Der frische, unabhängige Solistengeist des Ensemble Modern Orchestra kam der Uraufführung dieses Werkes sicherlich zugute.

Eine konkrete Inspirationsquelle liegt dem Werk „Contrebande (On Comparative Meteorology II)” von Johannes Maria Staud zugrunde; nämlich das Werk des polnisch-jüdischen Visionärs Bruno Schulz und dessen phantastisch-expressionistischen Kindheitserinnerungen. Ohne in eine konkrete Bildsprache abzudriften, gelingt es dem Komponisten ein Innenleben mit der Wahrnehmung eines Kindes, wie es scheint, zu spiegeln, in dem alles so vertraut wie auch bedrohlich klingt: Perkussionsklänge changieren zwischen Glockenspiel und Scherbengeklirr wie wiederkehrenden absteigenden Glissandi der Streicher – sie suggerieren gleichsam Boden- und Kontrollverlust. Es entsteht eine Welt als Sog, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Eine Offenbarung an diesem Abend war Eötvös’ Interpretation von Schönbergs Variationen für Orchester op. 31, für die er in diesem Ensemble von hochmotivierten und hochkonzentrierten Solisten den idealen Partner zu haben schien. Durch das zügig gewählte Grundtempo entstand eine Stringenz und Dichte, die komplexe kompositorische Strukturen als erfassbare Einheiten freizulegen vermochte. Auch wenn Schönberg seine Musik nicht auf Schönheit, sondern Wahrheit angelegt hatte, so war es in dieser Realisation doch möglich, auch die Schönheit einer klaren Klangsprache zu erleben, nicht zuletzt dank Eötvös’ Verzicht auf eklatante Effekte bei gleichzeitig freiem, frischem Umgang mit dem rigiden Konstrukt. Dieses Gleichgewicht zwischen zwei schwierigen Polen setzte den ganzen Abend unter eine Spannung, die dem Dirigenten wie dem Ensemble mit viel Beifall gedankt wurde.

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