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Foto: © filmwild / Sebastian Stolz
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Sternstunde: Johann Christian Bachs „La clemenza di Scipione“ in Eisenach

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Für die erste eigene Opernproduktion im Landestheater Eisenach muss man drei Initiatoren danken. Jens Neundorff von Enzberg, der neue Intendant des Staatstheaters Meiningen, hat mit dem schönen Bürgertheater in Rot und Weiß mehr vor als Gastspiele von Meininger Produktionen, wie sich das seit der letzten Renovierung vor zehn Jahren eingeschliffen hatte. Regisseur Dominik Wilgenbus brachte ihn auf der Suche nach mit der Region verbundenen Musiktheater-Werken auf Johann Christian Bach. Auch die bislang mit Alter Musik nicht sonderlich vertraute Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach machte einen exzellenten Job in „La clemenza di Scipione“. Das Premierenwochenende wurde zur Sternstunde und einem Fest der Stimmen.

In dieser im April 1778, also nur zwei Jahre vor Mozarts weitaus genialerem „Idomeneo“ uraufgeführter Opera seria von Johann Christian Bachs fliegen nicht nur musikalisch die Fetzen. Jetzt ist der Opernbarock definitiv vorbei. Zwar gibt es in „Scipione“ noch nicht so viele Duette und Ensembles wie bei Mozart, aber die Arien dieser Oper befinden sich immer auf einer musikdramatischen Zielgeraden mit einer auch für Ohren von heute packenden Spannungsdynamik. Bukolisch-pastorale Momente wie die von Onur Abaci hinreißend schön gesungene Kavatine des Luceius sind bei Johann Christian weitaus seltener als ein geschärfter Aplomb mit immer wieder aufregenden Bravourreizen – auch Psychologisierung findet sich in Ansätzen.

Dominik Wilgenbus machte aus der rituell-schematischen Handlung ein kleines Welttheater für zwei Spieler*innen mit Kopfpuppen und fünf Sänger*innen über die schmerzliche Annäherung zwischen den römischen Siegern und spanischen Verlierern des Zweiten Punischen Krieges: Bewegungsintensiv, sinnlich und immer wieder anrührend. Bei den Schweinen hätte man es in dieser Evolutionsdynastie gut sein lassen sollen, lamentiert Herr Gott (Falk Pieter Ulke). Aber „Schweine können nicht musizieren“ kontert Frau Göttin (Kerstin Wiese) und dazu klappern die Mäuler der göttlichen Kopfpuppen. Dem lässt sich schwerlich etwas entgegensetzen, wenn der größere Teil des Ensembles im Theater Eisenach mindestens ebenso gefährlich schön singt wie die Sirenen und fast so herzbewegend wie sterbende Schwäne. Aber weil es das kosmische Gesetz verbietet, dürfen sich die höheren Wesen nur bedingt in das skandalöse bis strohdumme Tun der Sterblichen mischen und dieses zum Besseren wenden. Inspiriert von Harry Mulischs Roman „Die Entdeckung des Himmels“ schrieb Wilgenbus Dialoge, welche die von Ernest Warburton für die Notenedition nachkomponierten Seccorrezitative ersetzten.

Doch das war bei weitem nicht alles. Mit sensiblem Respekt vor der Partitur durchdringen sich Dialoge und Aktion. Die Sänger streuen einzelne Töne in den göttlichen Disput und fressen dem Regisseur Wilgenbus quasi aus der Hand. Die Inszenierung wird durch die variablen Dekorationen von Peter Engel und Uschi Haugs luftige bis elegante Kostüme mit viel Tüll, Gold und Anthrazit kräftig beflügelt. Eine schräge Scheibe mit halbrunder Mauerumhüllung ist die Spielfläche, gefüllte Stoffschlangen wölben sich über dem Spiel zur Andeutung von Wald. Nur ein Wilgenbus darf sich das Klischee erlauben, dass die Juwelen zur Beschwichtigung der niedergeschlagenen spanischen Erbfolgerinnen aus einer bordeauxroten Schatulle hängen.

In Eisenach brillierte nicht die Meininger Hofkapelle, die in ihrem Stammhaus die Parallelpremiere des „Fliegenden Holländers“ spielte, sondern die Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach. Deren instrumentales Feuerwerk hielt höchsten Ansprüchen betreffend historisch informierte Aufführungspraxis mühelos stand. Juri Lebidev am Pult ist mit minutiösem Gerechtigkeitssinn Sänger- und Instrumente-Versteher – seine schon telepathische Präsenz wurde die unverzichtbare Voraussetzung zu dem Vertrauen zwischen Bühne und Graben, die ein derartig beglückendes Ereignis überhaupt erst ermöglicht.

Die Sänger, durch Jens Neundorff von Enzberg zum Teil von seiner letzten Intendanz in Regensburg mitgebracht, werfen sich tänzerisch und fast akrobatisch ins Geschehen. So fallen die Zuschauer von einem Wechselbad leichter, aber nie leichtfertiger Gefühle ins nächste. Delikate Frivolität und emotionale Tiefe wechseln. Unter Anleitung von Willgenbus gibt das Ensemble der nur zweistündigen Opera seria eine Wendigkeit, als handele es sich um „Figaro“ oder „Così fan tutte“. Melancholie und Spaß sind immer ganz nahe zusammen. Einfach schön.

Für die Solisten gibt es dreimal Gold, zweimal Silber, keine Bronze. Sara-Maria Saalmann ließ vor der zweiten Vorstellung um freundliche Nachsicht bitten. Unbegründet. Sie meisterte – neben allen anderen Anforderungen – die große Arie mit konzertierenden Soloinstrumenten. Ihre Klagen singt Saalmann mit sphärischer Zartheit. Noch sicherer verfährt Alexandra Scherrmann als ihre Schwester Idalba mit Koloraturen von nachdrücklichem Leichtgewicht sogar noch, als ihr der kräftige Marzius (Johannes Mooser immer im vokalen Kompromiss von Held und Poltergeist) mit der rohen Fleischkeule droht. Bei ihrer intimen Tafelei knistert es bedrohlich zwischen Hingabebereitschaft und Vergewaltigungsabsicht. Mit in der Tiefe minimal kehligem und in der Höhe immer klarerem Tenor empfiehlt sich Martin Lechleitner als vergebender und die Liebe offenbar mehr als den Krieg schätzender Scipio für größere Aufgaben im Mozart-Fach.

Erstaunlich auch diesmal, was Onur Abaci aus seiner Soprankastraten-Partie macht. Mit perfekter Eleganz gelingen ihm die extrem schwierigen Übergänge vom Forte ins Piano bei voller Kraftintensität. Der bewusste Verzicht auf eine Continuo-Gruppe verstärkt noch mehr das stratosphärische Leuchten dieser mitreißenden Musik. Und wie dieses ideale Ensemble eine Riesenfreude am szenisch-musikalischen Tun auslebt, ist unbedingt sehenswert.

  • Termine: Sa 16.10.2021, 19:30 (Premiere) – So 17.10., 15:00 (besuchte Vorstellung) – Do 28.10., 19:30 – Fr 26.11., 19:30 – So 28.11., 15:00 Uhr – Di 21.12., 19:30

 

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