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Der fliegende Holländer an der flämischen Oper Antwerpen. Foto: © Annemie Augustijns
Der fliegende Holländer an der flämischen Oper Antwerpen. Foto: © Annemie Augustijns
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Tatjana Gürbaca macht aus dem Fliegenden Holländer in Antwerpen ein Psychogramm des Wahnsinns

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Es sind letztlich die Geister, die entscheiden wie eindrucksvoll uns Richard Wagners „Fliegender Holländer“ heute auf die Pelle zu rücken vermag. Wenn die Mannschaft des Geister-Schiffes auf die Rufe der Norweger endlich antwortet, in die geordnete Welt der braven Seeleute einbricht und jede Gewissheit über die Grenze zwischen dem Dies- und dem Jenseits aus den Angeln hebt.

Die Zombies des Holländers irgendwie als die Kehrseite der biederen, auf jeden Fall diesseitigen Seeleute Dalands und ihrer Frauen und Bräute zu zeigen oder zumindest ihr Auftauchen als einen Einbruch in die Welt des nachvollziehbaren Handelns und greifbaren Nutzen des Handels zu interpretieren, ist heutzutage fast schon Konsens. Es aber so konsequent als einen Ausbruch der in jedem einzelnen angelegten, anderen, dunklen, pechschwarzen Seite der Seele zu zeigen, das gelingt selten so überzeugend wie jetzt Tatjana Gürbaca mit ihrer zweiten Holländer-Inszenierung. Diesmal triumphiert der Wahnsinn endgültig, ergreift die ohnehin in Dalands Diensten Geschundenen und schlecht Bezahlten, um ihr Leben Betrogenen, schüttelt ihre Körper durch, als wären sie vom Satan besessen.

Dazu treibt auch Cornelius Meister das Orchester der Flämischen Oper weit über den romantischen Grusel hinaus, fast bis an die Grenze des Tonalen. Diesmal sucht die Regisseurin nicht (wie 2008 an der Deutschen Oper Berlin) mit dem Fernrohr der allfällig illustrierenden Kapitalismuskritik den Horizont (oder die Bildschirme der Börsenkurse) nach den Folgen der Globalisierung ab. Diesmal greift sie zu Instrumenten, die den Blick nach Innen erlauben, um genau dieses Innere nach Außen zu kehren und dabei jene Verletzungen, Entmenschlichung in einem weiter gefassten, grundsätzlicheren Zusammenhang aufzuheben. 

Dass der ansonsten gar nicht unsympathische Steuermann die auftauchende Gefahr verpennt oder den goldenen Füller einsteckt, mit dem Daland und der Holländer den Ehe- sprich Kaufvertrag für Senta unterschreiben, ist das eine. Dass er einem bewusstlos geschlagenen Kameraden ohne Skrupel um das goldene Armband erleichtert, das der für seine Braut vorgesehen hat, aber ein ziemliches Maß von Verkommenheit. 

Meer des Wahnsinns und der Weltflucht

Die Seeleute wissen genau, dass Daland seine Tochter verkauft: Während er noch mit dem Fremden feilscht, taucht die Braut zwischen ihnen auf, der sie für ein Tänzchen jeder einen Geldschein in die Falten des Brautkleides stecken. Dem Holländer ziehen sie gegen dessen Willen einige ihrer Klamotten über und kleben ihm ein „just married“ Schild auf den Rücken. Die Mädels von Frau Mary geraten nicht erst wenn Erik auftaucht außer Rand und Band, als wären sie im Frauenknast auf Männerentzug. Liebe kommt in dieser Welt nur noch als Fluchtweg aus dem irdischen Leben wie bei Senta, oder dem ungewollten ewigen Leben wie beim Holländer vor. Die beiden beginnen sich denn auch bei ihrer Begegnung sogleich wie vom Blitz getroffen auszuziehen, nehmen Daland und die anderen nicht mehr wahr.

Zwischen all den kaputten Existenzen, in diesem Meer des Wahnsinns und der Weltflucht, hat einer wie Erik keine echte Chance. Ihm bleibt erst die Verzweiflung und dann die Flucht. Mitten aus dem Chaos des grandios in Szene gesetzten Untergangs der verkommenen Welt. 

Hinter die erhöhte Spielfläche hatte Henrik Ahr zwei goldene Portaltürme gesetzt, zwischen denen anfangs der Holländer auftaucht. Über der Spielfläche schwebt wie ein Segel ein riesiger Bildschirm für Live-Bilder aus der Vogelperspektive und immer mal effektvoll fließendes (schwarzes) Blut – oder was auch immer. Den größten Effekt macht das, wenn am Ende alle um (und mit) Senta zu Boden gehenden Männer und Frauen zum Video-Gemälde in flämischer Manier werden, das durchaus ans jüngste Gericht erinnert. Wenn sich das im Licht (der Vernunft oder eines vagen Neuanfangs?) auflöst, bleibt immerhin noch Erik die Kraft, sich aufzuraffen und zu fliehen. 

Das Publikum muss nach dieser Art Erlösung erstmal durchatmen. Gürbaca ist ein stringenter, sehr genau durchchoreographierter Psychotrip auf die dunkle Seite der Menschenseele gelungen. Einer, der zudem sehr genau aus der Musik entwickelt wird, für die der noch junge, aber schon recht holländererfahrene Cornelius Meister genau der richtige Partner ist. Die durchweg in ihren Rollen debütierenden Protagonisten überzeugen vor allem da, wo sie Verzweiflung oder Weltflucht glaubhaft machen. Ob nun Iain Paterson als manchmal etwas nasaler aber wohltimbrierter Holländer, Liene Kinca als jugendlich verlorenen Senta, oder Ladislav Elgr als Erik, der seine Bodenhaftung nur in einem verzweifelten Kampf retten kann. Mit ihrer pragmatischen Diesseitigkeit punkten dagegen der voluminös auftrumpfende Dmitry Ulyanov als Daland, Adam Smith als viriler Steuermann und die junge Reahann Bryce-Davis als Mary. Der Chor hat diesmal eine Hauptrolle und bewältigt sie fabelhaft!

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