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Markus Francke, Opern- und Extrachor des Theaters Ulm, Statisterie des Theaters Ulm | Foto: Jochen Klenk
Markus Francke, Opern- und Extrachor des Theaters Ulm, Statisterie des Theaters Ulm | Foto: Jochen Klenk
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Tristans Liebestod – Die Uraufführung von Charles Tournemires „La Légende de Tristan“ in Ulm

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Fast 100 Jahre nach ihrer Entstehung brachte das Theater Ulm die Uraufführung der Oper „La Légende de Tristan“ des französischen Orgelvirtuosen und Symphonikers Charles Tournemire (1870-1939) heraus. Wie vieles vom Beginn des 20. Jahrhunderts ist dieses faszinierende wie imposante Opus, dessen Text Albert Pauphilet (1884-1948) nach Joseph Bédiers Roman-Adaption „Tristan und Isolde“ (1900) entwickelt hatte, der weitgehend, aber nicht ganz gelungene Versuch, aus dem Schatten von Wagners übermächtigem Musikdrama herauszutreten.

Das Publikum der Premiere war von der satten musikalischen Qualität unter GMD Felix Bender, der bildgewaltigen Realisierung durch Intendant Kay Metzger und Michael Heinrich begeistert. Markus Francke und An de Ridder singen das Liebespaar souverän.

Die 1925/26 entstandene Partitur von “La Légende de Tristan“ ist bei weitem nicht so opulent wie die ähnlich singuläre Oper „Hulda“ von Tournemires Lehrer César Franck und wirkt komplexer als die Tonsprache von Charles-Marie Widor. Im dritten Akt, wenn die Liebe trotz Zaubertrank und dem edlen Verhalten des in hoher Bariton-Lage singenden König Marc, dem verratenen Dritten, keine Chance hat, verdichtet sich das Klanggeschehen. Da überwältigt das Orchester die Stimmen der Soli und des Chors. Letzterer übernimmt neben physischen Figuren auch den Part der irdischen Liebe. In dieser „Tristan“-Oper fließen unterschiedlichste Geistesströmungen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zusammen: Mystizismus, letzte Regungen des Symbolismus, das Mittelalter als Inspirationsmoment wie für die Präraffaeliten und die vielfachen Neuansätze im französischen Musiktheater.

GMD Felix Bender entscheidet sich mit dem Philharmonischen Orchester der Stadt Ulm für eine klare, deutliche Wiedergabe. Das ist richtig. Denn die Poesie muss nicht entwickelt werden, sondern spricht direkt aus Tournemires Musik. Zu viel Weichheit, zu viel kantabler Lyrizismus unter den Stimmen wäre der berüchtigte Kick zu viel. Tournemire fordert viel vom Orchester. Klarinetten-, Oboen-, Horn- und auch Streichersoli gehören zu den dominierenden Farben, ertönen oft wie blank und dulden deshalb nicht die geringste Unebenheit, welche den poetischen Schein der Musik und des Dramas empfindlich beschädigen würden. Das Orchester macht daraus einen beeindruckenden Leistungsnachweis. Inwieweit „La Légende de Tristan“ sich heute neben einem Wurf wie Chaussons „Le roi Arthus“ behaupten kann, wird sich bei einer zweiten und dritten Einstudierung erweisen. Man hört, dass die Partitur auch für andere Interpretationsansätze noch einiges hergibt. Das von Michael Weiger erstellte Aufführungsmaterial für die ursprünglich im Corona-Jahr 2020 angesetzte Premiere liegt vor.

Intendant Kay Metzger und mehr noch der Ausstatter Michael Heinrich haben dafür eine Zeitgeschichte, Metaphorik und Poesie vereinigende Bildwelt geschaffen. Einheitsraum ist eine riesige Kapitänskajüte mit hohen Bücherwänden. In Rahmenszenen wird sie ein Lazarett für verwundete Soldaten, die unmittelbare Realität nach dem Ersten Weltkrieg. Dahinter schlagen turmhohe Meereswellen, vorne werden die Auswirkungen des Liebestrankes immer deutlicher. Iseut ist zuerst Krankenschwester, bevor Marc zum Kapitän wird und das archaische Drama seinen Gang nimmt.

Im ersten Akt sieht man, was Wagners Isolde wortreich berichtet. Tristan hat Morholt erschlagen und zieht aus, einen Drachen zu töten. Iseut pflegt den verwundeten Helden. Anders als bei Wagner setzt der Liebestrank aber nicht beider zurückgehaltene Gefühle frei, sondern ist ein ganz dummer Zufall mit fatalen Auswirkungen. Metzger lässt Tristan und Iseut nach Genuss des cassisfarbenen Getränks erst verlegen und ratlos herumsitzen, bevor beide die Wirkung mit voller Wucht trifft. Beim Kapitän unterm Weihnachtsbaum täuschen die Liebenden den König und seinen in perfider Prosa sprechenden „Zwerg“ Frocin (Joshua Spinik) mit einem Anstand und Ehrbewusstsein heuchelnden Dialog. – Klartext untereinander bekennen Tristan und Iseut in der Utopie des Waldes von Morois. Dort sind sie in den mittelalterlichen Quellen arm, aber glücklich. Dazu schiebt Michael Heinrich eine ärmliche Stube mit Bett und Nähmaschine herein, während Tournemires Musik sich absichtsvoll verdichtet. An dieser Stelle findet sich die blühende, üppige, lange Liebesszene. Wobei der immer auf die literarische Rhetorik achtende Tournemire die Stimmen Tristans und Iseuts fast nie zusammenführt.

Auf Tristans faszinierenden Monolog folgt die Episode, wie dieser als Narr Tantris nach Cornwall kommt. Bitter: Während in den Quellen Iseut Tristan schließlich erkennt, wendet sie sich bei Tournemire (und Metzger) brüskiert ab, bis Tristan sich die Maske vom Gesicht reißt. Am Ende versinken Tristans Existenz und diese Opernlegende dort, „wo jeder hehre Traum sich von Wirklichkeit und Schmerz löst, wo alle Schönheit aufblüht und die Seele im höchsten Flug, im Tod die Vollkommenheit erreicht.“ Die Oper endet also mit Tristans Liebestod. Tournemires „Tristan“ ist auch ein Chorwerk – der von Hendrik Haas und Nikolaus Henseler einstudierte Opern- und Extrachor befindet sich fast immer auf und neben der Bühne.

Das will gesungen sein, vor allem in den beiden umfangreichen Hauptpartien. Dae-Hee Shin ist ein Marc, dem das Fragen in der Stimme hell-dunklen Stimme steht. Obwohl er keinen großen Klagegesang hat wie Wagners Marke, ist er als von Eifer- und Ehrsucht getriebener Charakter weitaus mehr präsent. I Chiao Shih gibt mit prächtig dunklem Material eine mehr dominante als dienende Brangien ohne Leidensmiene.

Tristan führt noch mehr als Iseut. Der Tenor Markus Francke setzt zuerst auf seine deklamatorische Begabung, zeigt mit Verdichtung der Liebeshandlung mehr Schmelz und mobilisiert am Ende prachtvolle, nicht auftrumpfende Kraftreserven. Einen „dramatischen Sopran“ fordert Tournemire für Iseut, was im französischen Opernkontext etwas anderes meint als einen deutschen hochdramatischen Sopran . An De Ridder klingt jung und gesund. Dieses Paar lebt durch die Liebe und kämpft mit dieser. Beeindruckende Leistung für eine Oper, deren zutiefst individuelle und nicht immer einfache Klangsprache eine starke Herausforderung bedeutet.

Es ist schwierig: „La Légende de Tristan“ verdient aufgrund seiner hohen Qualität die zum Premierentermin kaum mögliche Betrachtung ohne Spiegelung an Wagner. Wie wäre es, „La Légende de Tristan“ in Beziehung zu anderen französischen Opern nach Sagenstoffen zu setzen – also in die genealogische Reihe von Reyers „Sigurd“ und Chaussons „Le roi Arthus“. Dann offenbart sich eine Synergie von Mystik und Eros, zu der Tournemire mit seiner Musik mehr Fragen stellt als Antworten gibt. Durch diese Fragen nach den Rätseln der menschlichen Seele steht „La Légende de Tristan“ in weitaus größerer Geistesverwandtschaft zu Debussys „Pelléas et Mélisande“ als zu Wagner.

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