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Alzira à l'Opéra Royal de Wallonie-Liège Foto: © J Berger
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Umarmung im Heufeld: Verdis „Alzira“ an der Opéra Royal de Wallonie-Liège

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Zum Repertoirestück wurde Giuseppe Verdis „Alzira“ nie. Das wird sich auch nach der vom Gran Teatro Nacional del Perú über den Palacio Euskalduna Bilbao an die Opéra Royal de Wallonie Liège gelangten Inszenierung von Jean Pierre Gamarra nicht ändern. Giampaolo Bisanti, der neue Chefdirigent des Lütticher Opernhauses, gestaltete eine sorgfältige Einstudierung mit kräftigen Stimmen in den Hauptpartien. Orchestre et Choeurs hatten die richtige Verdi-Temperatur.

Die 1845 uraufgeführte Tragedia lirica „Alzira“ war Giuseppe Verdis erste Arbeit für Neapel. Dort ereigneten sich musikalische, formale und dramaturgische Innovationen schon 25 Jahre früher, wenn auf der Bühne des progressiven Teatro San Carlo in Giovanni Pacinis „L'ultimo giorno di Pompei“ der Vesuv ausbrach und in Rossinis „Mosè in Egitto“ sich das Meer teilte. In Voltaires durch Salvadore Cammarano für Verdi zum Libretto gemachter Tragödie „Alzire, ou Les Américains“ sind es einmal mehr zwei verfeindete Völkerschaften, ein in deren Kämpfen scheiterndes Liebespaar und ein gegnerischer Bariton. Dieses dramatische Grundmuster modifizierten Verdi und andere immer wieder.

Der Ruf nach Neapel verpflichtete: Hier hatte Rossini die ernste Oper für das 19. Jahrhundert zukunftswirksam aufgerüstet, hatten Simon Mayr zum Beispiel mit „Medea in Corinto“ und Donizetti mit „Lucia di Lammermoor“ Pionierwerke geschaffen. In „Alzira“ hört man, wie Verdi sich nicht auf seinen bislang von „Oberto“ bis „Giovanna d'Arco“ entwickelten Mitteln ausruhen, sondern weiter wollte. Einiges wirkt konstruiert in der 95-Minuten-Partitur. Neben wirkungsvollen Szenen stehen matte Passagen. Vor allem für Dirigierende ist das eine große, nicht ernst genug zu nehmende Herausforderung.

Zum Repertoirestück brachte es diese Oper deshalb nie. Das wird sich auch nach der vom Gran Teatro Nacional del Perú über den Palacio Euskalduna Bilbao an die Opéra Royal de Wallonie Liège gelangte Inszenierung von Jean Pierre Gamarra schwerlich ändern. Unter Stableuchten, vor dem Chor in schwarzer Kleidung der Entstehungszeit und auf dem Streifen mit trockenen Halmen (Bühne und Kostüme: Lorenzo Albani) überlebt der Peruaner Zamoro trotz schwerer Verletzung und kommt der spanische Eindringling Gusmano zu Tode. Zwischen ihnen liebt und leidet die Inka-Prinzessin Alzira. Sie ist bereits Christin, vor allem aber durch ihre emotionale Bindung an Zamoro und die Zwangsverheiratung mit Gusmano außerordentlichen seelischen Strapazen ausgesetzt. Einer der Höhepunkte des Abends wird, wenn sich das Liebespaar zu Holzbläser-Girlanden ins Liebesnirwana hochschmachtet und zu unstatthaften Umarmungen im Heufeld darnieder sinkt. Meist unterhalb des Laufstegs für die Mittelpunktfiguren agieren die gut besetzten Nebenpartien: Luca dall'Amico (Alvaro), Roger Joakim (Ataliba), Marie-Cathérine Baclin (Zuma), Zeno Popescu (Otumbo) und Alexander Marev (Ovando)

Man hörte in der dritten Vorstellung der alle Strophen-Wiederholungen enthaltenden Produktion neben einem engagierten, beherzten Einsatz auch die Probleme und Herausforderungen der Partitur. Trotz der nach dem ersten Bild eingespielten Texte über Flüchtlingsverfolgung und Terror, trotz großer Blutflecke auf Männerhemden, trotz düsterer Aufmärsche des dunkel gewandeten und musikalisch umso leuchtenderen Chors (Leitung: Denis Segond) kam die in Deutschland erstmals 1998 vom Niederbayerischen Landestheater mit der späteren Wagner-Heroine Barbara Schneider-Hofstetter gespielte Oper nicht so richtig in Fahrt. Das lag allerdings auch an den für Verdi ungewohnt neutralen und trockenen Rezitativ-Szenen. Große Erwartungen setzte man in die Verdi-Kompetenzen des neuen Chefdirigenten und auch in Deutschland beliebten Giampaolo Bisanti.

Die vielen heiklen Holzbläser-Stellen, mit denen Verdi in der Ouvertüre und bis zum Schluss mit Effekten operiert, kommen vom Orchester fast makellos und mit feinen Farbwert-Varianten. Beim Klarinettensolo legt Bisanti an Emotionalität zu, spart sich aber neben der trockenen und vorbildlich präzisen Rhythmik den ersten Brio- und Emphase-Schub für Alziras große Kantilene eine halbe Stunde später auf. Man spürt Bemühen und disziplinierte Anstrengungen, Verdis unausgewogenes Opus durch Konzentration und wertschätzende Behandlung zu veredeln. Auch deshalb kommt es zu kräftigen Differenzen zwischen dem feinen Orchester und der nicht ganz so delikaten Besetzung der drei Hauptpartien.

Vor allem der Tenor Luciano Ganci tritt die Flucht nach vorn an. Er liefert unnötiges Dauer-Forte, das Bisanti weder verlangt und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht wünschte. Belcanto-Flor und Zwischentöne enthält Gancis vokales Bizeps-Spiel kaum. Der Bariton Giovanni Meoni dagegen weiß, wie man Verdis Bariton-Partien nehmen muss. Deshalb rangiert er im Dynamik-Pegel ständig und selbstbewusst unter Ganci, bewahrt sich aber so weitaus mehr Möglichkeiten des Ausdrucks. In seiner Sterbeszene erzielt er fast rührende Dimensionen. Francesca Dotto hat die genau richtigen Farben für Mozarts schwere und Verdis leichtere Partien. Zum Beispiel nahm Ileana Cotrubas Alzira in der Studio-Weltersteinspielung unter Lamberto Gardelli Anfang der 1980-er Jahre mit inniger Leichtigkeit. Zwischen lyrischer Basis und Attacke muss sich hier jede Interpretin gemäß persönlicher vokaler Wettbewerbsvorteile selbst entscheiden. Beides zusammen geht in diesem Fall offenbar nicht. Deshalb gelingen Francesca Dotta die gerade noch Donizetti-nahen Passagen souverän und gelangen die straffen Forte-Strophen, deutlich hörbar neben Gancis durchgängigen Kraftnachweisen, trotzdem an die Grenzen ihrer Kondition. So bleibt dieser Verdi-Abend denkwürdig unentschlossen zwischen Sorgfalt, Anspruch und unausgewogener Besetzung. Es bestätigt sich auch nach dieser „Alzira“ die Feststellung, dass „I masnadieri“, „I due Foscari“ und „I Lombardi alla prima crociata“ (von der Opéra Royal de Wallonie Liège für Frühjahr 2023 angekündigt) die weitaus stärkeren Verdi-Stücke sind.

  • Besuchte Vorstellung: Di 29.11., 20:00 – wieder am Do 01.12, 20:00 – Sa 03.12., 20:00 (Premiere: Fr 25.11., 20:00)   

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